Titel

AG Dannenberg (Elbe), Beschluss vom 07.11.2005, Az. 39 XIV 57/04 L
Rechtswidrigkeit des Polizeikessels beim Castor-Transport 2003 in Grippel

 


Zitiervorschlag: AG Dannenberg (Elbe), Beschluss vom 07.11.2005, Az. 39 XIV 57/04 L, zitiert nach POR-RAV


Teaser

In den Nachtstunden des 11. auf den 12.11.2003 befanden sich ca. 1.000 Personen auf der Straße in Grippel, nach dem am Tag mehrere kulturelle Aktionen stattgefunden hatten. Ohne Vorankündigung umstellte die Polizei die Gruppe und einige angrenzende Grundstücke gegen Mitternacht. Niemand durfte den Kessel verlassen. Die Polizei gab vor, nach ca. 150 gewaltbereiten Personen zu suchen. Nach ca. 2 Stunden waren lediglich 8 Personen festgenommen worden, zumeist wegen Verstößen gegen das Vermummungsverbot. Der Rest der Personen wurde auf ein angrenzendes Feld in einen Kessel gebracht, bis der Castor durchgefahren war. Die Polizei rechtfertigte im Verfahren das Fehlen der versammlungsrechtlichen Auflösung damit, dass es sich nicht um eine Versammlung gehandelt habe. Diese Argumentation ließ das Gericht nicht gelten.

Leitsatz

1. Ohne Rechtsmittelbelehrung beginnt die Antragsfrist des § 19 Abs. 2 NGefAG nicht zu laufen.

2. Durch die Allgemeinverfügung, die alle Versammlungen in einem bestimmten Bereich verbietet, wird die gem. § 15 VersG notwendige Auflösung der Versammung nicht entbehrlich.

3. Hieran ändert auch nicht, dass die Polizei die Aktion als "kulturelles Happening" eingeschätzt hat.

4. Eine Auflösungsverfügung kann auch konkludent ergehen. Die Anordnung einer Masseningewahrsamnahme stellt aber keine solche konkludente Auflösung dar.

Volltext

TENOR

1. Es wird festgestellt, dass die Freiheitsentziehung des Betroffenen durch Ingewahrsamnahme am 12.Nov. 2003 rechtswidrig war.

2. Die Kosten des Verfahrens falten der Landeskasse, vertreten durch die Polizeidirektion Lüneburg, zur Last.

3. Der Geschäftswert wird auf 3.000 € festgesetzt.

GRÜNDE

I.

Der Betroffene wurde am 12. Nov, 2003 im Rahmen einer Veranstaltung in der Ortschaft Grippel an der Straße nach Gorleben durch Polizeikräfte in Gewahrsam genommen.

Die lngewahrsamnahme lief dabei folgendermaßen ab: In der besagten Ortschaft hatte es in den späten Abendstunden des 11 Nov. 2003 im Zusammenhang mit dem so genannten Castortransport eine Straßenblockadeaktion gegeben An dieser war auch der Betroffene und ca. 1000 weitere Personen beteiligt.

Die Polizeikräfte vermuteten unter diesen Personen ca. 200 gewaltgeneigte Störer. Sie war daher mit einer erheblichen Polizeipräsenz vor Ort. Der Polizeieinsatzleiter Herr T. entschloss sich gegen 0:00 Uhr die Straße freizumachen. Zu diesem Zeitpunkt erwarteten die Polizeikräfte den Straßentransport der Castorbehälter nach Verladen in der Umladestation in Dannenberg.

Gegenüber den sich auf der Straßen aufhaltenden Personen erging jedoch keine Auflösungsverfügung hinsichtlich einer evtl. Demonstration. Stattdessen erfolgte um 0:20 Uhr eine Lautsprecherdurchsage: „Hier spricht die Polizei. Ich spreche die Menschenmenge hier in Grippe! an. Wir teilen Ihnen mit, dass diese Menschenmenge hier in Grippel in Gewahrsam genommen ist. Verhalten sie sich bitte ruhig. Sie werden einzeln von Polizeikräften in Gewahrsam genommen".

Eine weitete Durchsage dieser Art wurde nicht erteilt. Stattdessen begann die Polizei bereits vor Aufruf, die entsprechenden Örtlichkeiten weiträumig zu umstellen, und die dort anwesenden Personen einzukesseln.

Eine Aufforderung zum Verlassen des Ortes hat es vorher durch die Polizei nicht gegeben. Die Polizeikräfte umschlossen die Anwesenden. Ca. zwei Stunden später wurde dann erneut eine Durchsage der Polizei gemacht. Die Anwesenden wurden aufgefordert, die Örtlichkeiten zu verlassen.

Die Straße wurde ab ca. 02:30 Uhr durch Wegtragen der Anwesenden durch Polizeikräfte geräumt. Personen konnten zu diesem Zeitpunkt den sogenannten „Kessel“ bereits nicht mehr verlassen. Die Umschließung dauerte dann bis ca. 07:00 Uhr morgens an. Die Anwesenden wurden so lange vor Ort in Gewahrsam gehalten Der Betroffene selbst habe zwar grundsätzlich mit seiner lngewahrsamnahme gerechnet, sich jedoch nicht auf einen derart langen Aufenthalt von beinahe 7 Stunden im Freien vorbereiten können. Aus dem Gewahrsam heraus stellte der Betroffene den Antrag auf Überprüfung der Rechtmäßigkeit dieser Ingewahrsamnahme.

II.

Der Betroffene und die Beteiligte hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.

Der Betroffene hat sich dem Gericht gegenüber zunächst mit einem Schreiben vom 02.07.2004 geäußert. Die Beteiligte hat eine schriftliche Stellungnahme am 2. Mai 2005 dem Amtsgericht vorgelegt.

Dabei hat die Beteiligte ausgeführt, dass es in der Tat keine formelle Auflösung gegeben habe. Dies begründe sich daraus, dass die Polizei nicht sicher von dem Vorliegen einer Versammlung im Sinne des Versammlungsrechts habe ausgehen können. Im übrigen habe es eine Gefahrenprognose gegeben, die die sofortige lngewahrsamnahme gerechtfertigt habe. Das werfe die rechtliche Frage auf, ob bereits die durch Alfgemeinverfügung verbotene Versammlung von vornherein als aufgelöst gegolten habe.

Die Verfahrensbevollmächtigte des Betroffenen hat unter dem 21.10.2005 umfangreich Stellung genommen Auf die bei den Akten befindlichen Unterlagen wird Bezug genommen.

Einer persönlichen Anhörung des Betroffenen bedurfte es nicht mehr. Es waren lediglich rechtliche Gesichtspunkte zu klären.

III.

Der Antrag des Betroffenen ist zulässig. Die Rechtswidrigkeit der lngewahrsamnahme war auszusprechen.

Gem. § 19 Abs. 2 NGefAG kann ein Betroffener die Feststellung durch das Amtsgericht der Ingewahrsamnahme beantragen, dass diese rechtswidrig gewesen sei, Der Antrag ist binnen eines Monats nach Beendigung des Gewahrsams zu stellen.

Der Antrag des Betroffenen liegt hier nur in Form eines handschriftlichen Zettels vor, der offensichtlich in Grippel am 12.11.2003 vom Betroffenen verfasst wurde.

Es kann dahinstehen, ob dies bereits eine wirksame Antragstellung gemäß § 19 Abs. 2 NGefAG ist. Im Zusammenhang mit der lngewahrsamnahme ist jedenfalls eine entsprechende Rechtsmittelbelehrung, die die Frist des § 19 Abs. 2 NGefAG in Gang setzen würde, nicht ersichtlich.

Vielmehr wurde der Betroffene dann durch das Amtsgericht Dannenberg unter dem 08.06.2004 angeschrieben und stellte mit Schreiben 02.07.2004 klar, dass er die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der lngewahrsamnahme wünsche.

Die lngewahrsamnahme als solche ist rechtswidrig

Die Voraussetzungen des § 18 NGefAG lagen nicht in einer die Gewahrsamnahme rechtfertigenden Art und Weise vor.

Im Einzelnen: Gemäß § 18 NGefAG kann eine Person in Gewahrsam genommen werden, um die unmittelbare Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit von erheblicher Gefahr für die Allgemeinheit zu verhindern

Diese Voraussetzungen lagen hier - noch - nicht vor, als der Betroffene in Gewahrsam genommen wurde. Zwar gab es für die Polizei durchaus nachvollziehbare und zutreffende Erkenntnisse, dass die Straßenblockaden im Zusammenhang mit dem Castortransport möglicherweise nicht durch bloße Aufforderung und Erteilung von Platzverweisen zu beenden wären. Zutreffend ist auch, dass die Weiterführung einer Blockadeaktionen nach Auflösung durch die Polizei innerhalb der Verbotszone der Allgemeinverfügung der ehemaligen Bezirksregierung Lüneburg, die lngewahrsamnahme der Teilnehmer rechtfertigt, wenn diese sich nicht freiwillig entfernen.

Allerdings muss auch die Möglichkeit bestehen, dass sich Teilnehmer freiwillig entfernen können, Hieran fehlte es aufgrund des festgestellten Sachverhalts in der vorliegenden Konstellation eindeutig.

Grundlage der lngewahrsamnahme konnte hier allenfalls ein Verstoß gegen das Versammlungsverbot, und damit eine Straftat bzw. Ordnungswidrigkeit nach dem Versammlungsgesetz sein. Damit jedoch auf einer derartigen Grundlage die lngewahrsamnahme gestützt werden kann, muss eine entsprechende Versammlung nach den Vorschriften des Versammlungsgesetzes aufgelöst werden; auch dann, wenn die Versammlung verboten oder gar unfriedlich gewesen sein sollte (vgl. Beschluss LG Lüneburg, 30 T 35/05 vom 02.05 2005, OVG Bremen, NVWZ 1987, 235)

Allein durch die Allgemeinverfügung als solche war eine Auflösung der Versammlung daher nicht entbehrlich.

Der Wortlaut der Ankündigung der lngewahrsamnahme kann auch nicht als Auflösung konkludenter Art angesehen werden. Zwar kann eine Auflösungsverfügung auch indirekt und durch konkludentes Handeln erfolgen. Die Anordnung der Masseningewahrsamnahme mit dem eindeutigen Hinweis auf den Beginn der Freiheitsentziehung vermag das Gericht aber unter keinen Umständen als eine solche Auflösung auszulegen.

Dabei ist hier bereits festzustellen, dass von einer unfriedlichen Versammlung oder gar den von der Polizei immer wieder angesprochenen gewaltbereiten Störern, nach den getroffenen Feststellungen nicht die Rede sein konnte. Auch ergibt sich nach der lngewahrsamnahme nicht, dass die Polizei im Zusammenhang mit den zahlreichen in Gewahrsam genommenen Personen irgendwelche gewaltgeneigten Störer ermittelt hätte. Der Hinweis der Polizei, dass es sich möglicherweise um keine Versammlung im eigentlichen Sinne gehandelt haben könne, geht ebenfalls fehl.

Eine Versammlung ist nach Definition des Bundesverfassungsgerichts eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhaber an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung (BVerfGE 104, 94). Diese Voraussetzungen lagen in der geschilderten und ermittelten Konstellation eindeutig vor. Soweit durch die Polizeidirektion dargelegt wird, dass sich die Aktion möglicherweise als „kulturelles Happening“ verstanden wissen wollte, ändert dies an der Einschätzung nichts.

Auch die Polizei ging selbstverständlich davon aus, dass es sich hier um eine Blockadeaktion im Zusammenhang mit der bevorstehenden Verladung und des Transportes der Castorbehälter handelte. Sie selbst spricht davon, in diesem Spektrum gewaltbereite Störer zu vermuten. Dabei kann sich die Polizei auch nicht auf möglicherweise nachträglich gesicherte anderweitige Erkenntnisse stützen. Die Frage der Rechtmäßigkeit der lngewahrsamnahme ist aus der „Ex-nunc-Betrachtung“ zum Zeitpunkt der Vornahme den Maßnahme zu prüfen. Gesicherte oder nachvollziehbare Erkenntnisse über eine Störungslage sind dabei den Akten nicht zu entnehmen.

Eine Auflösung der Versammlung hätte daher stattfinden müssen. Eine sofortige lngewahrsamnahme wegen einer anders nicht zu beseitigenden aktuellen Gefahrenlage war nicht ersichtlich. Andere als versammlungsrechtliche Vorschriften sind nicht verletzt worden.

Da eine solche Auflösungsverfugung gemäß § 15 Abs. 2 Versammlungsgesetz noch nicht ergangen ist, stand auch nicht die Begehung einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit von erheblicher Gefahr für die Allgemeinheit bevor. Insbesondere hätte die Polizei abwarten müssen, ob aufgrund einer solchen Auflösungsverfügung ein Großteil der Anwesenden möglicherweise den Ort sofort verlassen hätte. Eine solche Aufforderung wäre auch nicht von vornherein völlig ineffektiv und ohne Erfolgsaussicht gewesen. Aus einer Vielzahl von Verfahren ist bekannt, dass durchaus ein größerer Anteil von Personen der Gewahrsamnahme nach Ankündigung durch Polizeikräfte durch freiwilliges Verlassen der Straße entgeht.

Unabhängig von der Frage, wie lange aufgrund einer derartigen Lage eine mögliche lngewahrsamnahme andauern kann, fehlte hier aus den dargelegten Umständen bereits von vornherein eine Rechtfertigung für diese Form des polizeilichen Handelns

Die Rechtswidrigkeit der lngewahrsamnahme war daher festzustellen.

lV.

Die Nebenentscheidungen folgen aus den Vorschriften des § 19 Abs. 4 NGefAG in Verbindung mit § 30 Abs. 2 KostO.

Kommentar

Die Entscheidung stellt klar, dass die Antragsfrist des § 19 Abs. 2 NGefAG ohne Belehrung nicht zu laufen beginnt.

Entgegen der Begründung im hiesigen Beschluss stellt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts klar, dass die Auflösung "eindeutig und unmissverständlich" ergehen muss (vgl.BVerfG, Beschluss vom 26.10.2004, 1 BvR 1726/01).