Titel

AG Dannenberg (Elbe), Beschluss vom 16.03.2006, Az. 39 XIV 10/04
Ingewahrsamnahme einer ganzen Versammlung ohne vorherige Versammlungsauflösung ist rechtswidrig.

 


Zitiervorschlag: AG Dannenberg (Elbe), Beschluss vom 16.03.2006, Az. 39 XIV 10/04, zitiert nach POR-RAV


Teaser

Ist die Freiheitsentziehung insgesamt rechtswidrig, dann ist auch die Art und Weise der Behandlung im Gewahrsam rechtswidrig. Dies ist auf Antrag auch auszusprechen. Einer gesonderten Prüfung bedarf es hierfür nach Ansicht des Gerichts nicht. Dies ist zwar unzutreffend (vgl. Bayrischer Verwaltungsgerichtshof, C 06.634), aber immerhin insofern ein Schritt in die richtige Richtung, als dass sich das Gericht überhaupt zum ersten Mal mit der Behandlung der in Gewahrsam genommenen Personen beschäftigt hat.

Leitsatz

1. Durch die Allgemeinverfügung, die alle Versammlungen in einem bestimmten Bereich verbietet, wird die gem. § 15 VersG notwendige Auflösung der Versammung nicht entbehrlich. 2. Hieran ändert auch nicht, dass die Polizei die Aktion als "kulturelles Happening" eingeschätzt hat. 3. Ist die Freiheitsentziehung dem Grunde nach rechtswidrig, so ist ohne weitere Prüfung in der Folge auch festzustellen, dass die Art und Weise der vollzogenen Freiheitsentziehung rechtswidrig war.

Volltext

Amtsgericht Dannenberg 39 XIV 10/04 16.März 2006 TENOR

1. Es wird festgestellt, dass die Freiheitsentziehung des Betroffenen durch Ingewahrsamnahme am 12. November 2003 dem Grunde nach rechtswidrig war. 2. Es wird festgestellt, dass die Art und Weise des Vollzugs des Gewahrsams in den Nachtstunden auf dem freien Feld, insbesondere die fehlende Versorgung mit Toiletten, Getränken, die fehlende Möglichkeit, sich auszuruhen und sich vor der Kälte zu schützen, rechtswidrig war. 3. Die Kosten des Verfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen des Betroffenen fallen der Landeskasse, vertreten durch die Polizeidirektion Lüneburg, zur Last. 4. Der Geschäftswert wird auf 6.000€ festgesetzi

GRÜNDE

I.

Der Betroffene wurde am 12.November 2003 im Rahmen einer Veranstaltung in der Ortschaft Grippel in der Straße nach Gorleben durch Polizeikräfte in Gewahrsam genommen. Die lngewahrsamnahme lief dabei folgendermaßen ab: In der besagten Ortschaft hatte es in den späten Abendstunden des 11. November 2003 im Zusammenhang mit dem so genannten Castortransport eine Straßenblockadeaktion gegeben. An dieser war auch der Betroffene beteiligt. Daneben hatten sich ca. 1.000 weitere Personen an der Blockade beteiligt.

Die Polizeikräfte vermuteten unter diesen Personen ca. 200 gewaltgeneigte Störer- Sie war daher mit einer erheblichen Polizeipräsenz vor Ort. Der Polizeieinsatzleiter Herr T. entschloss sich gegen 0:00 Uhr die Straße freizumachen. Zu diesem Zeitpunkt erwarteten die Polizeikräfte den Straßentransport der Castorbehälter nach Verladen in der Umladestation in Dannenberg.

Gegenüber den sich auf der Straßen aufhaltenden Personen erging jedoch. keine Auflösungsverfügung hinsichtlich einer evtl. Demonstration. Stattdessen erfolgte um 0:20 Uhr eine Lautsprecherdurchsage: „Hier spricht die Polizei. Ich spreche die Menschenmenge hier in Grippel an. Wir teilen ihnen mit, dass diese Menschenmenge hier in Grippel in Gewahrsam genommen ist. Verhalten sie sich bitte ruhig. Sie werden einzeln von Polizeikräften in Gewahrsam genommen.“

Eine weitere Durchsage dieser Art wurde nicht erteilt. Stattdessen begann die Polizei bereits vor Aufruf, die entsprechenden Örtlichkeiten weiträumig zu umstellen, und die dort anwesenden Personen einzukesseln. Eine Aufforderung zum Verlassen des Ortes hat es vorher durch die Polizei nicht gegeben. Die Polizeikräfte umschlossen die Anwesenden. Ca. zwei Stunden später wurde dann erneut eine Durchsage der Polizei gemacht. Die Anwesenden wurden aufgefordert, die Örtlichkeiten zu verlassen. Die Straße wurde ab ca. 02:30 Uhr durch Wegtragen der Anwesenden durch Polizeikräfte geräumt. Personen konnten zu diesem Zeitpunkt den sogenannten „Kessel“ bereits nicht mehr verlassen. Die Umschließung dauerte dann bis ca. 07:00 Uhr morgens an. Die Anwesenden wurden so lange vor Ort in Gewahrsam gehalten.

All dies betraf auch den Betroffenen, der noch am 12. November 2003 einen Antrag auf „richterliche Prüfung der lngewahrsamnahme am 12.11.2003 um 0.22 Uhr“ stellte.

II.

Der Betroffene und die Beteiligte hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Der Betroffene hat sich persönlich mit Schreiben vom .27. Juli 2004 und 31. Mai 2005 sowie mit mehreren Schriftsätzen seiner Verfahrensbevollmächtigten geäußert. . Diese hat mit Schriftsatz vom 05. August 2005 den Antrag des Betroffenen konkretisiert und die aus dem Tenor ersichtlichen Anträge gestellt. Den weiteren Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit des Filmens der eingekesselten Personen sowie der Verpflichtung zur Vernichtung des Materials hat sie mit Schriftsatz vorn 08. März 2006 zurückgenommen. Auf eine persönliche Anhörung hat der Betroffene für den Fall verzichtet, dass seinen Anträgen vollumfänglich stattgegeben wird, was hier geschehen ist.

Die Beteiligte hat schriftliche Stellungnahmen vom 2. Mai 2005 sowie vom 31. Oktober 2005 vorgelegt. Hierbei hat die Beteiligte ausgeführt, dass es in der Tat keine formelle Auflösung gegeben habe. Dies begründe sich daraus, dass die Polizei nicht sicher von dem Vorliegen einer Versammlung im Sinne des Versammlungsrechts habe ausgehen können. Im übrigen habe es eine Gefahrenprognose gegeben, die die sofortige Ingewahrsamnahme gerechtfertigt hätte.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Geschehens wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.

III.

Die Anträge des Betroffenen sind zulässig. insbesondere sind sie fristgerecht erhoben worden. Die Anträge sind auch begründet.

1. Rechtswidrigkeit dem Grunde nach

Die Rechtswidrigkeit der lngewahrsamnahme dem Grunde nach war festzustellen.

Die Voraussetzungen des § 18 Abs. 1 NGefAG lagen nicht in einer die Gewahrsamnahme rechtfertigenden Art und Weise vor.

Im Einzelnen:

Gemäß § 18 Abs. 1 Nr. 2 NGefAG kann eine Person in Gewahrsam genommen werden, um die Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit von erheblicher Gefahr für die Allgemeinheit zu verhindern.

Diese Voraussetzungen lagen hier – noch - nicht vor, als der Betroffene in Gewahrsam genommen wurde. Zwar gab es für die Polizei durchaus nachvollziehbare und zutreffende Erkenntnisse, dass die Straßenblockaden im Zusammenhang mit dem Castortransport möglicherweise nicht durch bloße Aufforderung und Erteilung von Platzverweisen zu beenden wären. Zutreffend ist auch, dass die Weiterführung einer Blockadeaktion nach Auflösung durch die Polizei innerhalb der Verbotszone der Allgemeinverfügung der ehemaligen Bezirksregierung Lüneburg die Ingewahrsamnahme der Teilnehmer rechtfertigt, wenn diese sich nicht freiwillig entfernen.

Allerdings muss auch die Möglichkeit bestehen, dass sich Teilnehmer freiwillig entfernen können. Hieran fehlte es aufgrund des festgestellten Sachverhalts in der vorliegenden Konstellation eindeutig.

Grundlage der lngewahrsamnahme könnte hier allenfalls ein Verstoß gegen das Versammlungsverbot, und damit eine Straftat bzw. Ordnungswidrigkeit nach dem Versammlungsgesetz sein. Damit jedoch auf einer derartigen Grundlage die Ingewahrsamnahme gestützt werden kann, muss eine entsprechende Versammlung nach den Vorschriften des Versammlungsgesetzes aufgelöst werden; auch dann, wenn die Versammlung verboten oder gar unfriedlich gewesen sein sollte (vgl. Beschluss LG Lüneburg, 30 T 38/05 vom 02.08.2005, OVG Bremen, NVWZ 1967, 235).

Dabei ist hier bereits festzustellen, dass hier von einer unfriedlichen Versammlung oder gar den von der Polizei immer wieder angesprochenen gewaltbereiten Störern, nach den getroffenen Feststellungen nicht die Rede sein konnte. Auch ergibt sich nach der lngewahrsamnahme nicht, dass die Polizei im Zusammenhang mit den zahlreichen in Gewahrsam genommenen Personen irgendwelche gewaltgeneigten Störer ermittelt hätte.

Der Hinweis der Polizei, dass es sich möglicherweise um keine Versammlung im eigentlichen Sinne gehandelt haben könne, geht ebenfalls fehl.

Eine Versammlung ist nach Definition des Bundesverfassungsgerichts eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhaber an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung (Bundesverfassungsgerichts-Entscheidungen Bd. 104, 94). Diese Voraussetzungen lagen in der geschilderten und ermittelten Konstellation eindeutig vor. Auch die Polizei ging selbstverständlich davon aus, dass es sich hier um eine Blockadeaktion im Zusammenhang mit der bevorstehenden Verladung und des Transportes der Castorbehälter handelte. Sie selbst spricht davon, in diesem Spektrum gewaltbereite Störer zu vermuten. Dabei kann sich die Polizei auch nicht auf möglicherweise nachträglich gesicherte anderweitige Erkenntnisse stützen. Die Frage der Rechtmäßigkeit der lngewahrsamnahme ist aus der „Ex-nunc-Betrachtung“ zum Zeitpunkt der Vornahme der Maßnahme zu prüfen. Gesicherte oder nachvollziehbare Erkenntnisse über eine Störungslage sind dabei den Akten nicht zu entnehmen.

Eine Auflösung der Versammlung hätte daher stattfinden müssen. Eine‚ sofortige Ingewahrsamnahme wegen einer anders nicht zu beseitigenden aktuellen Gefahrenlage war nicht ersichtlich.

Da eine solche Auflösungsverfügung gemäß § 15 Abs. 2 Versammlungsgesetz noch nicht ergangen ist, stand auch nicht die Begehung einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit von erheblicher Gefahr für die Allgemeinheit bevor. Insbesondere hätte die Polizei abwarten müssen, ob aufgrund einer solchen Auflösungsverfügung ein Großteil der Anwesenden möglicherweise den Ort sofort verlassen hätte. Eine solche Aufforderung wäre auch nicht von vornherein völlig ineffektiv und ohne Erfolgsaussicht gewesen. Aus einer Vielzahl von Verfahren ist bekannt, dass durchaus ein größerer Anteil von Personen der Gewahrsamnahme nach Ankündigung durch Polizeikräfte durch freiwilliges Verlassen der Straße entgeht.

Die Rechtswidrigkeit der Ingewahrsamnahme dem Grunde nach war daher festzustellen.

2. Rechtswidrigkeit der Art und Weise des Vollzugs der Gewahrsamnahme

Auf den weiteren Antrag des Betroffenen war auch die Rechtswidrigkeit der Art und Weise des Vollzugs der Gewahrsamnahme festzustellen.

Da nach den vorstehenden Ausführungen feststeht, dass die Freiheitsentziehung des Betroffenen dem Grunde nach rechtswidrig war, so war in der Folge auch festzustellen, dass die Art und Weise der vollzogenen Freiheitsentziehung rechtswidrig war. Ist nämlich die Gewahrsamnahme an sich rechtswidrig, so verstößt auch jede einzelne Maßnahme der Polizei während der Freiheitsentziehung ohne weiteres gegen das Gesetz. Dementsprechend hat auch das Oberlandesgericht Celle bereits die Ansicht vertreten, dass im Falle der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung dem Grunde nach feststehe, dass „damit zugleich auch die Art und Weise der vollzogenen Freiheitsentziehung“ rechtswidrig war (vgl. Beschluss. vom 26.08.2005 zum Az. 22W 53/05).

Das Gericht hat die Angaben des Betroffenen über die Umstände des Vollzugs der Gewahrsamnahme (Nachtzeit, Kälte, Versorgung mit Toiletten und Getränken etc.) der Entscheidung zu Grunde gelegt, da sie glaubhaft waren und die Beteiligte diesem Vortrag in ihren Stellungnahmen nicht entgegengetreten ist.

Die Rechtswidrigkeit dieser Umstände war auf Antrag des Betroffenen auch ausdrücklich festzustellen, da die Überprüfung der Rechtsmäßigkeit des Vollzugs einer Gewahrsamnahme nach § 18 NGefAG im Verfahren gem. § 19 II NGefAG ebenfalls vorzunehmen ist, vgl. die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 13.12.2005 zum Az. 2 BvR 447/05, dort Ziffer 11.

Die Nebenentscheidungen folgen, aus den Vorschriften des § 19 Abs. 4 NGefAG in Verbindung mit § 30 Abs. 2 KostO, § 13 a FGG. Der Geschäftswert von 6.000 € setzt sich aus den beiden Einzelwerten von jeweils 3.000 € für jeden Antrag zusammen. Obwohl der Betroffene den Antrag bzgl. des Filmens zurückgenommen hat, waren ihm nicht ein Teil der Kosten aufzuerlegen. Dies entspräche nicht der Billigkeit im Sinne § 13 a Abs. 1 8. 1 FGG, da der zurückgenommene Antrag mangels Bezug zur Rechtswidrigkeit der Gewahrsamnahme den Geschäftswert ohnehin unberührt gelassen hat.

Kommentar

Die Entscheidung ist unspektakulär, soweit sie die Rechtswidrigkeit des Kessels feststellt; aufgrund der fehlenden Auflösungsverfügung war dies offensichtlich. Hinsichtlich der Behandlung im Gewahrsam ist die Entscheidung ein Schritt in die richtige Richtung: immerhin spricht das Gericht - in Umsetzung der Entscheidung des BVerfG vom 13.12.2005 (2 BvR 447/05) - nun aus, dass diese rechtswidrig war - allerdings ohne weitergehende Prüfung. Dies zeigt wieder, wie schwer sich die Gerichte mit den Grundrechten tun.

Es wird auch - wie in einigen Entscheidungen der niedersächsischen Gerichte - festgestellt, der Verstoß gegen ein Versammlungsverbot sei eine "Ordnungswidrigkeit von erheblicher Gefahr für die Allgemeinheit", ohne dass die näher begründet wird.

Die Festsetzung des doppelten Geschäftswertes ist ohne Bedeutung, da in Niedersachsen mittlerweile die Kosten in nachträglichen Freiheitsentziehungsverfahren nach § 112 BRAGO (bzw. 6300 RVG) festgesetzt werden.