Titel

KG Berlin, vom 12.09.2011, Az. 4 VAs 32/11
Rechtsweg bei doppelfunktionalem Gewahrsam

 


Zitiervorschlag: KG Berlin, vom 12.09.2011, Az. 4 VAs 32/11, zitiert nach POR-RAV


Teaser

Überlegungen des Kammergerichts zu der Frage der Zuständigkeit bei so genannten doppelfunktionalen Maßnahmen

Leitsatz

Bei Maßnahmen im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren ist der Rechtsweg nach § 98 Abs. 2 S. 2 StPO eröffnet. Eine fehlerhafte Bezeichnung der Maßnahme als polizeirechtlich durch die Polizei ist unschädlich. Bindende Verweisung hindert nicht die interne Weiterverweisung.

Volltext

TENOR

In der Justizverwaltungssache betreffend wegen Feststellung der Rechtswidrigkeit der nichtrichterlichen Anordnung einer Freiheitsentziehung der Betroffenen sowie der Art und Weise ihrer Behandlung im Polizeigewahrsam hat der 4. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 12. September 2011 beschlossen:

Der Rechtsweg nach §§ 23 ff. EGGVG ist unzulässig.

Der Antrag der Betroffenen wird an den Ermittlungsrichter des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin verwiesen.

GRÜNDE

Die Betroffene hat beim Amtsgericht Tiergarten in Berlin unter Bezugnahme auf § 31 Abs. 2 ASOG beantragt festzustellen, dass ihre Freiheitsentziehung am 15. November 2009 sowie die (näher beschriebene) Art und Weise ihrer Behandlung im Polizeigewahrsam rechtswidrig gewesen sei.

Die Betroffene war in Verdacht geraten, in den Nachtstunden des 15. November 2009 durch fortlaufendes Betätigen von Klingeln verschiedener Wohnungen des Hauses Köpenicker Straße 100 in Berlin Kreuzberg ordnungswidrig Lärm verursacht zu haben. Von Polizeibeamten dabei angetroffen, soll sie sich geweigert haben, sich auszuweisen, ihre Personalien zu nennen und den Polizeibeamten zu deren Einsatzfahrzeug zu folgen. Bei dem Versuch der Beamten, sie zwangsweise zum Fahrzeug zu verbringen, soll sie Widerstandshandlungen verübt und die Polizisten beleidigt haben. Angesichts dessen und der erkennbaren Alkoholisierung wurde nun ihre Verbringung (als „Tatverdächtige“) in den polizeilichen Gewahrsam angeordnet und vorgenommen, die dem Zwecke der Identitätsfeststellung und Abnahme einer Blutprobe sowie der Durchführung erkennungsdienstlicher Maßnahmen diente. Das gegen die Betroffene eingeleitete Strafverfahren wurde nach § 154 Abs. 1 StPO im Hinblick auf ein weiteres Strafverfahren eingestellt.

Das Amtsgericht Tiergarten hat den Antrag - als unbegründet - zurückgewiesen, weil die Polizisten nicht polizeirechtlich gegen die Betroffene vorgegangen seien, sondern zunächst zur Verfolgung einer Ordnungswidrigkeit und sodann zur Verfolgung der Straftaten des Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte und der Beleidigung. Auf die Beschwerde der Betroffenen hat das Landgericht Berlin — 84 T 160/10 ASOG - den amtsgerichtlichen Beschluss aufgehoben, den Rechtsweg zu den Gerichten der freiwilligen Gerichtsbarkeit als unzulässig erklärt und das Verfahren an das Kammergericht verwiesen, das gemäß §§ 23, 25 EGGVG zuständig sei.

1. Der Rechtsweg nach den §§ 23 ff EGGVG ist nicht eröffnet, da er gemäß § 23 Abs. 3 EGGVG zurücktritt, wenn bereits aufgrund anderer Vorschriften die ordentlichen Gerichte angerufen werden können. Dies ist vorliegend der Fall, da es um Maßnahmen in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren geht. Als Grund für die „Anordnung einer erkennungsdienstlichen Behandlung“ im Vorgang 091115-0153-136677 und die ebenfalls hierzu angeordnete Blutentnahme hat die Polizei jeweils den Tatverwurf des Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte benannt. Dass der Polizeibeamte PHM Parniske in einem Formblatt irrig auf § 81b 2. Alt. StPO abgestellt hat, ist unschädlich; denn es kommt auf die materiell zutreffende Einordnung und nicht die fehlerhafte Benennung einer Norm an. Hiernach obliegt die Entscheidung über die Begehren der Antragstellerin entsprechend § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO dem Amtsgericht Tiergarten.

2. Der Beschluss des Landgerichts Berlin, das ersichtlich die fehlerhafte Bezeichnung der Verfahrensnorm durch den genannten Polizisten aufgegriffen hat, ist nach § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG für den Senat hinsichtlich des Rechtswegs bindend, ohne dass der Senat noch zu entscheiden hätte, ob das Landgericht mit seiner Verweisungsentscheidung gegen § 17a Abs. 5 GVG verstoßen hat. Die bindende Verweisung bedeutet aber nicht, dass eine interne Weiterverweisung oder Abgabe aus Gründen der örtlichen, sachlichen oder funktionellen Zuständigkeit nicht möglich wäre (vgl. Senat, Beschlüsse vom 21. Mai 2001 - 4 VAs 14/01 — und 29. September 1999 — 4 VAs 26/99 —; OLG Karlsruhe MDR 1985, 88). Zwar soll eine solche Weiterverweisung ausscheiden, wenn verschiedene Sparten der ordentlichen Gerichtsbarkeit betroffen sind, so dass nach einer (unter Hinweis auf §§ 68, 103, 104 OWiG vorgenommenen) verwaltungsgerichtlichen Verweisung in das Bußgeldverfahren eine Weiterverweisung in die Zivilgerichtsbarkeit keine Bindungswirkung entfalte (vgl. BGH, Beschluss vom 23. März 2005 — 2 ARS 16/05 — [juris]).

Ein solcher Fall liegt hier aber ungeachtet der Ausgestaltung des Antragsverfahrens nach den §§ 23 ff. EGGVG (a.A. OLG Jena, Beschluss vom 19. Oktober 2010 — 1 VAs 5/10 — [juris], das im hier gegebenen Zusammenhang von verschiedenen Sparten der ordentlichen Gerichtsbarkeit ausgeht) nicht vor. Denn es geht um die Beurteilung von Maßnahmen auf dem Gebiet der Strafrechtspflege, zu der — unbeschadet der Subsidiaritätsklausel des § 23 Abs. 3 EGGVG — der Strafsenat im Verfahren nach den §§ 23 ff. EGVGV grundsätzlich berufen ist.