Titel

LG Lüneburg, Beschluss vom 19.04.2005, Az. 10 T 56/04
Die Auflösung einer Versammlung muss unmissverständlich ausgesprochen werden, selbst wenn die Versammlung verboten ist. Verstößt die Art und Weise der Behandlung im Gewahrsam gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, so wird hierdurch die gesamte Freiheitsentziehung rechtswidrig.

 


Zitiervorschlag: LG Lüneburg, Beschluss vom 19.04.2005, Az. 10 T 56/04, zitiert nach POR-RAV


Teaser

Dies war die erste Entscheidung im Zusammenhang mit den Castor-Transporten, die sich mit der Behandlung während der Freiheitsentziehung beschäftigt hat. Es wurde die - nach der Rechtsprechung des BVerfG (Az. 2 BvR 447/05) unzutreffende Ansicht vertreten, eine rechtswidrige Behandlung mache die gesamte Freiheitsentziehung rechtswidrig, auch wenn sie nur 5 Minuten andauerte (hier: körperliche Durchsuchung im entkleideten Zustand).

Außerdem wurde klargestellt, dass auch verbotene Versammlungen aufzulösen sind, und zwar ausdrücklich. Ein Hinweis auf die Rechtswidrigkeit des Tuns reicht nicht. Die Entscheidung ist vom OLG Celle aufgehoben worden. Diese Entscheidung ist wiederum mit einer Verfassungsbeschwerde erfolgreich angegriffen worden. Das Bundesverfassungsgericht hat die Sache zum Landgericht Lüneburg zurückverwiesen. Die rechtskräftige Entscheidung des Falles findetist unter dem Aktenzeichen 10 T 56/04 zu finden

Volltext

TENOR:

Auf die sofortige Beschwerde des Betroffenen wird der Beschluss des Amtsgerichts Dannenberg vom 15. 09. 2004 abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Es wird festgestellt, dass die Gewahrsamnahme des Betroffenen am 13./14. 11. 2004 rechtswidrig war. Der weitergehende Antrag und die weitergehende sofortige Beschwerde des Betroffenen werden zurückgewiesen. Das beteiligte Land Niedersachsen trägt die Kosten des Verfahrens. Der Geschäftswert wird auf 3000,00 € festgesetzt. Die weitere sofortige Beschwerde wird zugelassen.

GRÜNDE:

Der Betroffene wendet sich gegen seine polizeiliche Gewahrsamnahme am 13./14. November 2001 aus Anlass des damaligen CastorTransportes nach Gorleben. Am Nachmittag des 13.11.2001 nahm der Betroffene zusammen mit ca. 100 bis 200 Personen an einer „Sitzblockade“ auf der Landestraße 256 in Laase im Landkreis LüchowDannenberg teil. Über diese Landesstraße 256 sollte möglicherweise an diesem Tage bzw. dem Folgetag der CastorTransport auf seinem letzten Teilstück nach Gorleben geführt werden. Die Bezirksregierung Lüneburg hatte mit einer Allgemeinverfügung ein Ver¬sammlungsverbot u. a. auch für diese Landesstraße 256 im Bereich Laase erlassen.

Die „Sitzblockade“ begann gegen 15.00 Uhr, als der CastorTransportzug seinen Zielbahnhof Dannenberg erreichte. Wegen des Zuglaufes wird auf Bl. 54 d. A. Bezug genommen. Nachdem die Polizei gegen 15.30 Uhr von der „Sitzblockade“ in Laase Kenntnis erlangt hatte, wurden Polizeieinheiten in Laase zusammengezogen. Um 16.02 Uhr wurde durch den vor Ort leitenden Polizeibeamten, Herrn H., folgende Aufforderung über die Lautsprecheranlage des Befehlskraftwagens an die Blockierer gesprochen:

„Achtung, Achtung! Hier spricht die Polizei. Ich wende mich mit dieser Durchsage an die Personen, die auf der L 256 am Ortsausgang Laase, in Richtung Gorleben, auf der Straße sitzen. Ihr Verhalten ist rechtswidrig. Für diesen Bereich besteht ein Versammlungsverbot. Ich fordere Sie auf, die Straße innerhalb von 5 Minuten, ich wiederhole, innerhalb von 5 Minuten zu verlassen. Sollten Sie dieser Aufforderung nicht nachkommen, werde ich die Straße, auch unter Anwendung von Zwangsmitteln, bis hin zum Einsatz des Schlagstockes. räumen lassen. Dies ist die erste Aufforderung, es ist 16 Uhr und 2 Minuten.“ Um 16.07 Uhr und 16.35 Uhr erfolgten gleichlautende Aufforderungen an die Teilnehmer der „Sitzblockade“. Dann begann die Polizei die Teilneh¬mer der „Sitzblockade“, die sich ganz überwiegend nicht entfernt hatten, von der Straße zu bringen und in Gewahrsam zu nehmen, unter ihnen auch der Betroffene. Die in Gewahrsam genommenen Teilnehmer wurden der Gefangenensammelstelle nach Neu Tramm zugeführt. Dort wurde der Betroffene dann am 13.11.2001 um 18.11 Uhr aufgenommen. Während des Aufnahmeverfahrens musste sich der Betroffene nackt ausziehen, um dann körperlich durchsucht zu werden. Danach musste der Betroffene die Zeit bis zu seiner Entlassung am 14.11.2001 um 7.30 Uhr in einer Gewahrsamsammelzelle verbringen. Der CastorTransport hatte am 14.11.2001 um 7.09 Uhr das Zwischenlager in Gorleben erreicht.

Der Betroffene wendet sich sowohl gegen seine Ingewahrsamnahme an sich, als auch gegen Umstände seiner Behandlung während der Gewahr¬samsdauer. Einen Antrag auf richterliche Überprüfung hat der Betroffene am 04.12.2001 eingehend beim Amtsgericht Dannenberg gestellt, Bl. 24 d. A.

Das Amtsgericht hat den Betroffenen am 23. April 2004 persönlich angehört. Auf das ausführliche Protokoll dieser Anhörung, Bl. 7375 d. A. wird Bezug genommen. Mit Beschluss vom 15.09.2004 hat das Amtsgericht den Antrag des Betroffenen auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung sowie auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Behandlung während der Freiheitsentziehung zurückgewiesen. Auf Bl. 8385 d. a. wird Bezug genommen.

Hiergegen wendet sich der Betroffene mit seiner fristgerecht eingereichten sofortigen Beschwerde.

Die sofortige Beschwerde des Betroffenen hat im Wesentlichen Erfolg. Bereits seine Gewahrsamnahme am 13.11.2001 gegen 16.35 Uhr war rechtswidrig, weil es an der erforderlichen Auflösungsverfügung hinsichtlich der (rechtswidrigen) „Sitzblockade“ in Laase an diesem Nachmittag fehlte. Erst durch die ausdrückliche nach § 15 Abs. 2 des VersG ausgesprochene Auflösung wird die Versammlung zu einer bloßen Ansammlung mit der Folge, dass die Teilnehmer sich sofort zu entfernen haben und dann bei entsprechender Gefahrenprognose und Weigerung in Gewahrsam genommen werden dürfen. Die Durchsage des Polizeibeamten H. um 16.02 Uhr und danach erfüllt nicht die Anforderungen, die an eine ausdrückliche Auflösungsverfügung zu stellen sind. Vielmehr scheint der Polizeibeamte davon ausgegangen zu sein, dass es an so einer ausdrücklichen Aufforderung nicht mehr bedürfe, weil bereits ein Versammlungsverbot bestehe. Dem steht aber der Wortlaut von § 16 Abs. 3 VersG entgegen, wonach auch eine verbotene Versammlung zunächst aufzulösen ist, bevor allgemein polizeirechtliche Maßnahmen gegen die Versammlungsteilnehmer ergriffen werden dürfen. Der Wortlaut der Durchsage spricht hier dafür, dass ein Platzverweis gemäß § 17 Nds.SOG ausgesprochen worden ist. Diese an sich sachgerechte polizeiliche Maßnahme dürfte aber erst nach einer Auflösung der (verbotenen) „Sitzblockade“ erfolgen. Insoweit ist der Polizei hier ein Formfehler unterlaufen, der dazu führt, dass die nachfolgende Gewahrsamnahme rechtswidrig war.

Soweit der Betroffene darüber hinaus die Feststellung der Rechtswidrigkeit seiner Behandlung während der Gewahrsamnahme begehrt, hat dieser Antrag zum Teil Erfolg.

§ 19 Nds.SOG regelt die richterliche Entscheidungsbefugnis über die Zulässigkeit, Fortdauer sowie die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Freiheitsbeschränkung des Betroffenen abschließend. Beschwernisse des Betroffenen sind nicht Gegenstand der gerichtlichen Entscheidung, solange die Verstöße gegen die Gewahrsamsordnung nicht so schwerwiegend sind, dass diese Verstöße ihrerseits zur Rechtswidrigkeit der Freiheitsbeschränkung führen. Dies wirkt sich dann gegebenenfalls so aus, dass wegen einer unangemessenen Behandlung von Seiten der Polizei die Gewahrsamnahme als solche rechtswidrig ist. So liegen die Dinge auch hier.

Das Beschwerdegericht hält den Umstand, dass sich der Betroffene vollständig entkleiden musste, um eine Untersuchung in seinem Intimbereich zu dulden, für unverhältnismäßig mit der Folge, dass auch aus diesem Grunde sich die Gewahrsamnahme des Betroffenen insgesamt als rechtswidrig darstellt.

Gem. § 22 Nds.SOG ist die Durchsuchung einer Person u.a. dann zulässig, wenn sie entweder nach dem Nds.SOG oder anderen Rechtsvorschriften festgehalten werden kann oder Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie Sachen mit sich führt, die sichergestellt werden dürfen. Durchsuchungen, die mit einer Entkleidung verbunden sind, stellen einen schwerwiegenden Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht dar (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 29. Oktober 2003, Az: 2 BvR 1745/01, NJW 2004, 17281729 (Leitsatz und Gründe), dürfen daher nur unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit vorgenommen werden. Die Durchsuchung des Betroffenen, bei der er sich nackt ausziehen musste und auch im Intimbereich untersucht wurde, entsprach nicht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Diese polizeiliche Maßnahmen, deren Sinnhaftigkeit die Polizei auch auf ausdrückliche Nachfrage nicht nachvollziehbar darzustellen vermochte, kann nicht aus ganz allgemeinen gefahrenabwehrrechtlichen Erwägungen gerechtfertigt werden. Vielmehr müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass ohne diese Maßnahme konkrete Selbst bzw. Fremdgefährdungen vorliegen könnten. Zwar hat die Polizeidirektion Lüneburg in ihrer Stellungnahme vom 02. 02. 2005, Bl. 115-117 d. A. insoweit rechtlich billigenswerte Verdachtsmomente (Betäubungsmittelkonsument, Waffen, gefährliche Gegenstände, Widerstandshandlungen) dargelegt, allerdings vermochte sie keinen konkreten Bezug zu dem Betroffenen herzustellen. Nur wenn solche Verdachtmo¬mente bei dem Betroffenen selbst vorgelegen hätten, wäre ein derart schwerer Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen gerechtfertigt gewesen. Ohne das Vorliegen solcher Verdachtsmomente musste diese Maßnahme dem Betroffenen als reine Schikane erscheinen. Im Regelfall dürfte ein Abtasten einer Person ausreichend sein, um mitgeführte gefährliche Gegenstände zu erkennen und um die von der Polizeidirektion Lüneburg dargelegten abstrakten Gefahren ausschließen zu können. Eine nachvollziehbare Gefahr, dass bei im Rahmen von Castortransporten in Gewahrsam genommenen Personen sich aufgrund von Kurzschlusshandlungen Selbstverletzungen ereignen bzw. dass sie andere Ingewahrsamgenommene angreifen, vermag die Kammer nicht erkennen. Ebenso sieht die Kammer es als allenfalls theoretische Gefahr an, dass von diesem Personkreis Angriffe mit Nadeln oder Rasierklingen gegen Polizeibeamte verübt werden. Sofern aufgrund einer zu unterstellenden Gewaltbereitschaft konkret gewaltsame Handlungen zu erwarten sind, bestehen allerdings keine Bedenken gegen eine Durchsuchung des gesamten Körpers.

Die weiteren vom Betroffenen vorgebrachten Beschwernisse führen im Übrigen nicht zur Rechtswidrigkeit seiner Ingewahrsamnahme. Aufgabe des nachträglichen Feststellungsverfahrens des § 19 Nds.SOG ist es nicht, jede einzelne polizeiliche Maßnahme während der Gewahrsamnahme einer eingehenden rechtlichen Würdigung zuzuführen. Insoweit hat die weitergehende Beschwerde des Betroffenen keinen Erfolg.

Die Entscheidung zu den Kosten und den Beschwerdewert beruhen auf den §§ 13 a Abs. 1 Satz 1 FGG, § 131 Abs. 2, 30 Abs. 2 Satz 1, 3 Satz 1 KostO. Dabei hat das Gericht die gesamten Kosten des Verfahrens dem beteiligten Land Niedersachsen auferlegt, weil der Betroffene mit seiner Beschwerde im Wesentlichen Erfolg hatte, § 92 Abs. 2 ZPO analog.

Die sofortige weitere Beschwerde war zuzulassen, weil insbesondere das Verhältnis von Auflösung, Auflösungsverfügung und Gewahrsamnahme weiterer höchstrichterlicher Klärung bedarf, hier insbesondere die Frage welchen konkreten Anforderungen an die Wirksamkeit einer Auflösungsverfügung zu richten sind.

Kommentar

Die Entscheidung ist mittlerweile durch die rechtskräftige Entscheidung desselben Gerichts vom 19.12.2006 (Az.: 10 T 56/04) überholt, nachdem das Bundesverfassungsgericht über die Sache zu entscheiden hatte. Dies war eine der ersten Entscheidungen, die sich mit Fragen der Behandlung im Gewahrsam beschäftigt haben. Es wurde festgestellt, dass für eine körperliche Durchsuchung im entkleideten Zustand ein konkreter Gefahrenverdacht vorliegen muss, da es sich hierbei um einen schweren Eingriff in das Persönlichkeitsrecht handelt. Außerdem befand das Gericht, dass ein rechtswidrige Durchsuchung die gesamte Freiheitsentziehung rechtswidrig machen würde, diese Ansicht ist jedoch mittlerweile überholt.