Titel

LG Rostock, Urteil vom 04.08.2011, Az. 4 O 426/10
Schmerzensgeld für rechtswidrigen Gewahrsam

 


Zitiervorschlag: LG Rostock, Urteil vom 04.08.2011, Az. 4 O 426/10, zitiert nach POR-RAV


Gericht:

Aktenzeichen:

Datum:


Teaser

Schmerzensgeld in Höhe von 500,- € für 13-stündigen Gewahrsam während des G8-Gipfels in Heiligendamm

Leitsatz

Aufgrund rechtswidrigem Gewahrsams und dessen Umständen spricht das Gericht - aufgrund hinreichender Schwere sowie Fehlen einer anderweitigen Genugtuungsmöglichkeit - einen Schadensersatzanspruch zu. Bei der Bemessung wird darauf verwiesen, dass die Voraussetzungen für eine Freiheitsentziehung noch nicht einmal ansatzweise vorlagen, außerdem werden Dauer und Umstände des Gewahrsams und die gleichzeitige Verletzung der Versammlungsfreiheit in Rechnung gestellt.

Volltext

TENOR

1. Das beklagte Land wird verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 500,00 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 10.02.2011 zu zahlen. 2. Das beklagte Land hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen. 3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

GRÜNDE

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Verpflichtung des beklagten Landes zur Zahlung von Schadensersatz aufgrund Freiheitsentziehung.

In den frühen Morgenstunden des 07.06.2007 war die Klägerin aus Richtung Wichmannsdorf kommend mit einer Personengruppe unterwegs Richtung Sperrzaun, um an einer Protestdemonstration gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm teilzunehmen. Gegen 08.00 Uhr wurde die Gruppe an der L 11 von mehreren Polizeibeamten gestoppt. Zwischen 11.00 und 11.30 Uhr wurden die Personen in ein Polizeiauto verfrachtet und zusammen mit 10 weiteren Gefangenen und zwei Polizisten nach Kröpelin gefahren. Hier angekommen wurde die Klägerin durchsucht, gefesselt und in eine Einzelzelle eines Gefangenentransporters gesperrt.

Gegen 14.00 Uhr kam die Klägerin in der Gefangenensammelstelle in der Ulmenstraße an. Zunächst wurde sie in einen Käfig gesperrt mit 8 weiteren Frauen. Um 15.15 Uhr wurde sie aus dem Käfig geführt, wobei ihr nun die Fesseln an den Händen entfernt wurden. Die Klägerin wurde fotografiert. Dann musste sie sich in einer Kabine im Beisein von zwei Beamtinnen nackt ausziehen. Ihr nackter Körper wurde von einer Beamtin untersucht, wobei diese sie auch anfasste.

Danach wurde sie in eine Einzelzelle gebracht, die sie sich mit zwei weiteren Frauen teilen musste. In der Zelle befand sich eine Toilette, die nicht vom Rest des Raumes abgetrennt war. Diese Toilette musste im Beisein der anderen Frauen benutzt werden. Die Zelle war ca. 4 x 2,5 m groß.

Gegen 19.00 Uhr wurde die Klägerin zur Richterin gebracht, die gegen 19.30 Uhr die Freilassung der Klägerin anordnete. Entlassen wurde sie jedoch erst gegen 21.00 Uhr.

Die Klägerin hat sich zu keiner Zeit an der Errichtung und Entzündung von Barrikaden beteiligt, noch hat sie sich in einer Personengruppe befunden, aus der heraus Dritte Straßensperren errichtet und in Brand gesetzt haben.

Mit Schriftsatz vom 14.05.2008 hat die Klägerin Klage vor dem Verwaltungsgericht Schwerin erhoben mit den auf BI. 4/5 d. A. ersichtlichen Anträgen.

Das beklagte Land hat sein rechtswidriges Vorgehen zunächst gerechtfertigt. Im weiteren Prozessverlauf haben die Parteien die Anträge zu 1. und 2., in denen es um die Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung von 19.30 Uhr bis 21.00 Uhr sowie das zweimalige Fotografieren der Klägerin ging, für erledigt erklärt. Die Fotos waren bereits vernichtet worden. Mit Schreiben vom 20.08.2010 hat das beklagte Land auf entsprechenden Hinweis des Verwaltungsgerichts hin die Rechtswidrigkeit der meisten Klagepunkte anerkannt und nur noch die Dauerbeleuchtung und Videoüberwachung verteitigt. Das Verwaltungsgericht Schwerin hat am 29.10.2010 ein in Rechtskraft erwachsenes Anerkenntnisurteil erlassen. Wegen dessen Inhalts wird auf BI. 9 if. d. A. verwiesen.

Das beklagte Land hat den gesamten Polizeieinsatz von der Strategie bis hin zu den einzelnen Maßnahmen geplant und organisiert. Es hat Polizeitruppen aus anderen Bundesländern die Anwesenheit und die Amtstätigkeit auf seinem Gebiet gestattet und sich dabei das Weisungsrecht gegenüber jedem einzelnen Polizeibeamten - gleichgültig aus welchem Bundesland - vorbehalten.

Die Klägerin meint, im Hinblick auf die durchgeführten Maßnahmen stehe ihr ein Schmerzensgeldanspruch von mindestens 500,00 EUR zu.

Der Kläger beantragt,

das beklagte Land zu verurteilen, an die Klägerin ein angemessenes Schmerzensgeld in vom Gericht festzusetzender Höhe, zumindest 500,00 EUR, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz zu zahlen.

Das beklagte Land beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das beklagte Land trägt vor, Polizeibeamte des Landes Mecklenburg-Vorpommern seien für die streitgegenständlichen Maßnahmen nicht verantwortlich. Dem beklagten Land sei auch nicht bekannt, durch welche Polizeibeamten welcher Bundeländer die vom Verwaltungsgericht Schwerin rechtskräftig festgestellten rechtswidrigen Gewahrsamsmaßnahmen erfolgt seien.

Das beklagte Land meint, die Rechtskraft des Urteils bewirke zwar die Bindung der Gerichte an die im Tenor festgehaltenen Feststellungen des Rechtsverhältnisses, allerdings nicht dahingehend, dass die Maßnahmen durch Polizeibeamte des Landes Mecklenburg-Vorpommern erfolgt seien.

Darüber hinaus komme eine Entschädigung in Geld auch nur in Betracht, wenn die Rechtsbeeinträchtigung nicht in anderer Weise befriedigend ausgeglichen werden könne. Dies sei hier bereits dadurch erfolgt, dass die Rechtswidrigkeit der Art und Weise der Behandlung im Gewahrsam rechtskräftig festgestellt worden sei. Vorliegend sei mit der Klägerin zwar davon auszugehen, dass ihr allgemeines Persönlichkeitsrecht verletzt worden sei. Es habe jedoch kein Verstoß gegen die Menschenwürde vorgelegen. Zu beachten sei hierbei, dass bei solchen Großereignissen wie dem G8-Gipfel und gerade am 07.06.2007, dem Tag der Blockadeaktion der G8-Gegner, ausnahmsweise andere Maßstäbe gelten.

Zudem könne man sich auch an den Vorschriften des Gesetzes über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen orientieren. Gemäß dessen § 7 Abs. 3 betrage die Entschädigung für jeden angefangenen Tag der Freiheitsentziehung 25,00 EUR.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Parteien gewechselten und bis zum 15.06.2011 eingegangenen Schriftsätze nebst Anlagen verweisen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist begründet.

Dem Kläger steht ein Anspruch gegen das beklagte Land auf Zahlung von 500,00 EUR aus § 839 Abs. 1 Satz 1 BGB i.V.m. Art. 34 GG sowie § 253 Abs. 2 BGB zu.

Die im Dienst des beklagten Landes stehenden Polizeibeamten oder aber solche, für die das beklagte Land jedenfalls haftet, haben die Klägerin am 07.06.2007 in deren Grundrechten auf persönliche Freiheit, körperliche Unversehrtheit, Versammlungsfreiheit aber auch in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt. Zwischen den Parteien ist insoweit unstreitig, dass die Klägerin am 07.06.2007 im Zusammenhang mit Polizeieinsätzen anlässlich des G8-Gipfels in Gewahrsam genommen worden ist. Es kann dahingestellt bleiben, ob die in lngewahrsamnahme und die damit einhergehenden Maßnahmen allein durch Polizeibeamte des beklagten Landes erfolgten. Soweit dieses sich darauf beruft, dass an den Maßnahmen auch Polizeibeamte sämtlicher anderer Bundesländer beteiligt waren, ist darauf zu verweisen, dass das beklagte Land in dem Anerkenntnisurteil des Verwaltungsgerichts Schwerin vom 29. Oktober 2010 anerkannt hat, dass die mit der streitgegenständlichen Gewahrsamnahme einhergehenden Maßnahmen rechtswidrig waren. Das beklagte Land ist mithin an die rechtskräftige verwaltungsgerjchtliche Entscheidung gebunden. Streitgegenstand der verwaltungsgerichtlichen Feststellungsklage war der prozessuale Anspruch auf Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens des im Antrag bezeichneten Rechtsverhältnisses (vgl. zur Problematik Rennert in Eyermann, VwGQ, 13. Aufl., § 121 Rn. 35). Die Rechtskraft dieses Urteils bewirkt die Bindung aller Gerichte an die im Tenor festgehaltene Feststellung des Rechtsverhältnisses (BVerwGE 16, 36). Die Tatsache, dass das beklagte Land auch in jenem verwaltungsgerichtlichen Verfahren Prozesspartei war - dort in Form der Polizeidirektion Rostock, die jedoch nicht selbst rechtsfähig ist, sondern für die Gebietskörperschaft des beklagten Landes verklagt war - bewirkt, dass das beklagte Land die festgestellten Tatsachen gegen sich geltend lassen muss, unabhängig davon, ob ggf. (auch) Polizeibeamte aus anderen Bundesländern gehandelt haben. Das beklagte Land hat anerkannt, dass die Klägerin rechtswidrigen Maßnahmen ausgesetzt war. Das beklagte Land hat damit zum Ausdruck gebracht, dass gerade es für diese Maßnahmen verantwortlich zeichnet, etwa dergestalt, dass entweder seine Beamten gehandelt haben, oder aber das Land auch für Handlungen von Beamten aus anderen Bundesländern einstehen will, Ansonsten würde ein solches Anerkenntnis keinen Sinn machen. Es ist nicht ersichtlich, warum das beklagte Land ein entsprechendes Anerkenntnis abgeben sollte, wenn es nicht die Verantwortung tragen will. Es hat in dem Rechtsstreit vor dem Verwaltungsgericht Schwerin nicht seine Passivlegitimation bestritten. Das Land wäre gar nicht berechtigt, für andere Gebietskörperschaften Erklärungen dieser Art abzugeben.

Selbst wenn man eine Bindungswirkung insofern verneinen wollte, ist darauf zu verweisen, dass das beklagte Land als die betreffende Gebietskörperschaft, in deren Bereich der G8-Gipfel stattfand, die entsprechende Hoheit und das Weisungsrecht hatte. Insoweit trägt die Klägerin unbestritten vor, dass die Beamten des beklagten Landes jederzeit die Befugnis und die Möglichkeit gehabt hätten, sich über den Stand der Freiheitsentziehungen zu informieren und die sofortige Freilassung anzuordnen. Im Übrigen käme dem beklagten Land insoweit eine sekundäre Beweislast zu: Wenn eine öffentlich-rechtliche Gebietskörperschaft sich Beamter aus anderen Bundesländern bedient, so muss sie wissen, wann genau und wo diese zum Einsatz kommen, Dies gilt in ganz besonderen Maße für die Situation in der Sammelstelle. Es ist nicht nachvollziehbar, dass das beklagte Land anhand von Einsatzplänen nicht darzulegen vermag, in welchen Zeiträumen hier nicht die Polizeidirektion Rostock verantwortlich zeichnete, sondern Beamte aus anderen Bundesländern. Ansonsten wäre es möglich, dass sich ein betreffendes Bundesland auf diese Art und Weise einer Haftung für rechtswidrige Maßnahmen seiner Beamten entzieht. An Vortrag dazu, welche Beamten für welche der verschiedenen einzelnen Maßnahmen verantwortlich waren, fehlt es jedoch.

Die Umstände des Gewahrsamsvollzugs verletzten die Klägerin in ihren Grundrechten auf Freiheit, körperliche Unversehrtheit, Versammlungsfreiheit, als auch in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Der Schutzauftrag des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gebietet einen Anspruch auf Ausgleich des immateriellen Schadens, weil anderenfalls ein Verkümmern des Rechtsschutzes der Persönlichkeit zu befürchten wäre (BVerfG, Urteil vom 04.03.2004, 1 BvR 2098/01). Das BVerfG führt weiter aus, dass der hiernach gebotene Ausgleich zwar nicht zwingend durch Zubilligung eines Zahlungsanspruchs erfolgen muss (BVerfG, NJW 2004, 2371). Eine Entschädigung kann vielmehr nur unter der Voraussetzung einer hinreichenden Schwere und des Fehlens einer anderweitigen Genugtuungsmögljchkeit beansprucht werden (BGHZ 39, 124). Dies gilt ebenso, wenn zusätzlich das Grundrecht auf Freiheit der Person betroffen ist, weil es bereits an einer Rechtsgrundlage für die freiheitsentziehende Maßnahme als solcher fehlt.

Die hinreichende Schwere sowie das Fehlen einer anderweitigen Genugtuungsmöglichkeit sind hier zu bejahen. Die Tatsache, dass gegen die Klägerin ein Gewahrsam angeordnet wurde, ohne dass die Voraussetzungen dieser Maßnahme auch nur ansatzweise erfüllt gewesen sind, gibt dem vorliegenden Fall sein wesentliches Gepräge und unterscheidet ihn von den Entscheidungen, in weIchen es allein um Bedingungen beim Vollzug einer an sich gerechtfertigten Freiheitsentziehung ging (vgl. zur Problematik BVerfG, Beschluss vom 11.11.2009, 1 BvR 2853/08). Zwar ist hier die Rechtswidrigkeit der Gewahrsamnahme selbst nicht von dem Anerkenntnisurteil des Verwaltungsgerichts Schwerin umfasst. Die Klägerin trägt jedoch unwidersprochen vor, dass sie weder an der Errichtung und Entzündung von Barrikaden beteiligt war, noch an der Errichtung bzw. Inbrandsetzung von Straßensperren. Es fehlt an jeglichem Vortrag des beklagten Landes dazu, weshalb die Gewahrsamnahme rechtens gewesen sein sollte.

In Anbetracht der Schwere der Eingriffe wie Durchsuchung, vor allem deren Art und Weise, Fesselung, Unterbringung mit anderen Personen ohne abgetrennte Toiletten und die Verweigerung von Hygieneartikeln und Freiheitsentzug für mindestens 13 Stunden, hält das Gericht einen Schadensersatzanspruch in Höhe von 500,00 EUR für angemessen. Dabei hat das Gericht auch berücksichtigt, dass die Klägerin in einem elementaren und dem für die Funktion einer streitbaren Demokratie sehr wichtigen Grundrecht auf Versammlungsfreiheit verletzt wurde.

Soweit das beklagte Land sich darauf bezieht, dass in einem zuvor entschiedenen Fall das Gericht einmal damit argumentiert hat, dass eine Orientierung an § 7 Abs. 3 StrEG zu erfolgen hätte, so ist darauf zu verweisen, dass in jenem Fall die Klägerin bereits mit 500,00 EUR durch das beklagte Land entschädigt worden war und eine höhere Entschädigung begehrte. Zum Anderen handelte es sich um einen Fall, in welchem die ursprüngliche Ingewahrsamnahme rechtmäßig war, die Klägerin nach richterlicher Entscheidung zur Aufhebung des Gewahrsams jedoch erst verspätet wieder frei gelassen worden war. Hier jedoch war die Freiheitsentziehung von Anfang an rechtswidrig (s.o.)

Eine höhere Entschädigung war lediglich deshalb nicht auszusprechen, weil die Polizeibeamten aufgrund der allgemeinen Lage im Zeitraum des G8-Gipfels im Jahre 2007 - gerichtsbekannt -einen sehr hohen Organisationsaufwand zu bewältigen hatten und es schon aus diesem Grund bei der Bearbeitung der zahlreichen lngewahrsamnahmen zu erheblichen zeitlichen Verzögerungen kam. Im Übrigen ist insoweit auch die - dem Gericht bekannte - extrem hohe Belastung der Polizeibeamten in diesen Tagen zu berücksichtigen.

Kommentar

Eines der ersten Urteile, das die Grundentscheidung des Bundesverfassungsgerichts - 1 BvR 2853/08 - aus dem Jahr 2009 umsetzt, nach der in Fällen von rechtswidriger Freiheitsentziehung, die in Zusammenhang mit der Ausübung des Versammlungsrechts stehen, die Feststellung der Rechtswidrigkeit keine ausreichende Entschädigung darstellt, sondern eine Geldentschädigung hinzukommen muss. In der vorliegenden Entscheidung wird die "extrem hohe Belastung der Polizei an diesem Tage" mindernd in Ansatz gebracht, weshalb in anderen Fällen höhere Summen anzusetzen sind.