Titel

OLG Celle, Beschluss vom 04.05.2011, Az. 32 Ss 6/11
Zur Anwendung des Vermummungsverbots nach dem Niedersächsischen Versammlungsgesetz

 


Zitiervorschlag: OLG Celle, Beschluss vom 04.05.2011, Az. 32 Ss 6/11, zitiert nach POR-RAV


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Zur Anwendung des Vermummungsverbots nach dem Niedersächsischen Versammlungsgesetz.

Leitsatz

Verstöße gegen das Vermummungsverbot sind von Gesetzes wegen in Niedersachsen nur noch strafbar, wenn zuvor ein konkretisierender Verwaltungsakt die Vermummung für rechtswidrig erklärt. Bei der strafrechtlichen Bewertung muss festgestellt werden, wer eine entsprechende Aufforderung abgab, wie und in welcher Form sie geäußert wurde, welchen lnhalt sie hatte, ob sie sich konkret (auch) an den Angeklagten richtete, dieser die Aufforderung wahrnahm und sie auf sich bezog.

Volltext

TENOR:

Das angefochtene Urteil wird mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Hannover zurückverwiesen.

GRÜNDE:

l. Das Amtsgericht Hannover hat den Angeklagten mit Urteil vom 12.10.2010 wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz zu einer Geldstrafe von 15 Tagessätzen zu je 15 € verurteilt.

1. Nach den Feststellungen des Amtsgerichts ist der Angeklagte ledig, kinderlos und zurzeit nicht berufstätig. Strafrechtlich ist er bislang nicht in Erscheinung getreten. 2. ln der Sache hat das Amtsgericht folgende Feststellungen getroffen: Am 12.09.2009 nahm der Angeklagte in Hannover an einer Gegendemonstration zu einer NPD-Kundgebung teil. Hierbei trug er eine Baseballkappe, die tief in die Stirn gezogen war, eine Sonnenbrille und eine bis über sein Kinn gezogene Jacke, um durch diese Aufmachung seine ldentitätsfeststellung zu verhindern. 3. Das Amtsgericht hat die Tat als Verstoß gegen das Versammlungsgesetz (Vermummungsverbot) gemäß §§ 17 a Abs. 2 Nr. 1, 27 Abs. 2 Nr. 2 Versammlungsgesetz gewertet und auf eine Geldstrafe von 15 Tagessätzen zu je 15,- Euro erkannt. 4. Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Angeklagten. Er rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts. 5. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Revision zu verwerfen.

II. Die gemäß § 335 Abs. 1 StPO zulässige Revision des Angeklagten hat bereits mit der Sachrüge Erfolg. Die Verurteilung des Angeklagten wegen eines Verstoßes gegen das Vermummungsverbot kann keinen Bestand haben, nachdem sich die Rechtslage durch das Inkrafttreten des niedersächsischen Versammlungsgesetzes am 01.02.2011 geändert hat.

1. lm Zuge der Föderalismusreform 2006 ist die Gesetzgebungskompetenz für das Versammlungsrecht vom Bund in die - ausschließliche - Zuständigkeit der Länder übergegangen (vgl. das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28.08.2006, BGBI. l S. 2034). Gemäß Art. 125a Abs. 1 GG galt das bestehende Versammlungsrecht als Bundesrecht bis zu seiner Ersetzung durch Landesrecht fort (vgl. Epping/Hillgruber, Grundgesetz, Art. 125a Rn. 4). 2. Mit dem Gesetz zur Neuregelung des Versammlungsrechts vom 7. Oktober 2010 (Nds. GVBI. S. 532) hat das Land Niedersachsen von seiner neuen Zuständigkeit Gebrauch gemacht. In § 9 Abs. 2 Nr. 1 NVersG (entsprechend § 17a Abs. 2 Nr. 1 des bisherigen Bundesgesetzes) wird die Teilnahme an einer Versammlung in einer Aufmachung verboten, die zur Verhinderung der Feststellung der Identität geeignet und bestimmt ist (Vermummungsverbot). Mit § 10 Abs. 2 NVersG wurde eine ordnungsrechtliche Ermächtigungsgrundlage geschaffen, um die Verbote des § 9 NVersG durchsetzen zu können (vgl. hierzu den schriftlichen Bericht des Ausschusses für Inneres und Sport, LT - Drucksache 16/2913). Ein Verstoß gegen das Vermummungsverbot ist nach § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 NVersG unter Strafe gestellt. 3. Das niedersächsische Versammlungsgesetz ist am 01.02,2011 in Kraft getreten (vgl. Art. 6 des Gesetzes zur Neuregelung des Versammlungsrechts) und ersetzt, bezogen auf das Land Niedersachsen, das bis dahin geltende Bundesrecht. Dem steht im Hinblick auf den Straftatbestand nach § 20 NVersG nicht entgegen, dass dem Bund gemäß Art. 72 Abs. 1, 74 Abs. 1 Nr. 1 GG die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für das Strafrecht zusteht. Denn Art. 125a Abs. 1 GG eröffnet den Ländern eine umfassende Ersetzungsbefugnis (vgl. hierzu Wolff in v. Mangoldt/Klein/Starck Kommentar zum Grundgesetz, 6. Aufl., Art. 125a Rn. 24ff).

a) Ursprünglich sollte der Straftatbestand des § 27 VersG (Bund) mit nur sprachlichen Änderungen in das NVersG übernommen werden (vgl. Gesetzentwurf zur Neuregelung des Versammlungsgesetzes, LT - Drucksache 16/2075, S. 10, 41). Verfassungsrechtliche Bedenken im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (vgl. schriftlicher Bericht: des Ausschusses für Inneres und Sport, LT - Drucksache 16/2913) führten jedoch dazu, die Strafbarkeit von Verstößen gegen das Vermummungsverbot auf Fälle zu beschränken, in denen die Rechtswidrigkeit der Vermummung zuvor durch einen die Verhaltenspflicht konkretisierenden Verwaltungsakt festgestellt worden ist. Gemäß § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5, Satz 2 NVersG ist die Teilnahme an einer Versammlung in einer in § 9 Abs. 2 Nr. 1 NVersG bezeichneten Aufmachung daher nur noch dann strafbar, wenn hierdurch einer vollziehbaren Maßnahme nach § 10 Abs. 2 NVersG zuwidergehandelt wird. b) Diese Gesetzesänderung stellt sich als Fortsetzung der ursprünglichen Strafbarkeit und nicht als Einführung eines (völlig) neuen Straftatbestandes mit der Folge einer Straffreiheit des Angeklagten dar. Zwischen § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 NVersG und § 27 Abs. 2 Nr. 2 VersG (Bund) besteht eine Unrechtskontinuität. Ein Vergleich beider Tatbestände ergibt, dass das Wesen des in dem früheren Gesetz beschriebenen Delikts in seinem Kern von der Gesetzesänderung unberührt geblieben ist (vgl. hierzu allgemein BGHSt 26, 167ff) und kein völlig neuer Unrechtstyp geschaffen wurde. c) Gemäß § 2 Abs. 3 StGB ist das mildeste Gesetz anzuwenden, wenn das bei Beendi-gung der Tat geltende Gesetz vor der (letztinstanzlichen) Entscheidung geändert wird (sog. Meistbegünstigungsprinzip). Bei der Ermittlung des milderen Rechts kommt es maßgebend darauf an, welche Regelung im Einzelfall nach dessen besonderen Umständen die den Täter schonendere Beurteilung gestattet (vgl. BGH, Beschluss vom 19.06.2003, 5 StR 160/03 — juris). Die äußerste Milderung ist der Wegfall der Strafbarkeit (vgl. BGHSt 20, 116, 119). Danach stellt sich § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 NVersG gegenüber § 27 Abs. 2 Nr. 2 VersG (Bund) als das für den Angeklagten im konkreten Fall mildere Gesetz dar. Denn mit der Neuregelung wurden, bei gleicher Strafandrohung, zusätzliche Strafbarkeitsvoraussetzungen geschaffen, durch die die Anforderungen für das Vorliegen eines strafbaren Verstoßes gegen das Vermummungsverbot erhöht werden und bei deren Nichtvorliegen eine Strafbarkeit entfällt. d) Die Änderung der Gesetzeslage war auch noch in der Revisionsinstanz auf die Sachrüge zu berücksichtigen (vgl. Schönke/Schröder - Eser/Hecker StGB, 28. Aufl., § 2 Rn. 17 mwN) und das mildere Recht zwingend anzuwenden (vgl. Schmitz in Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, § 2 Rn. 39).

4. Die Feststellungen des Amtsgerichts tragen eine Verurteilung wegen Verstoßes gegen das Vermummungsverbot gemäß § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 i.V.m. § 9 Abs. 2 Nr. 1 NVersG nicht. Den Urteilsgründen ist nicht zu entnehmen, dass der Angeklagte einer vollziehbaren Maßnahme nach § 10 Abs. 2 NVersG zuwidergehandelt hätte. Zwar ergibt sich aus den im Urteil dargestellten Bekundungen des Polizeibeamten Hoffmann, dass eine Gruppe von Gegendemonstranten, zu denen auch der Angeklagte gehört haben soll, ihre Vermummung trotz Aufforderung nicht abgelegt hätten. Eine solche Aufforderung könnte eine vollziehbare Maßnahme gemäß § 10 Abs. 2 NVersG in Form einer Allgemeinverfügung (§ 35 Satz 2 VwVfG) darstellen. Hierzu enthält das Urteil aber keine weiteren Feststellungen. Dem Urteil ist nicht zu entnehmen, wer die Aufforderung abgab, wie und in welcher Form sie geäußert wurde, welchen lnhalt sie hatte, ob sie sich konkret (auch) an den Angeklagten richtete, dieser die Aufforderung wahrnahm und sie auf sich bezog.

lll. Das Urteil war daher aufzuheben und an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Hannover zurückzuverweisen.

Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf folgendes hin: Um dem Revisionsgericht die Überprüfung zu ermöglichen, ob die Aufmachung des Angeklagten tatsächlich geeignet war, die Feststellung seiner Identität zu verhindern, wäre es hilfreich, wenn der Senat die nach der Festnahme des Angeklagten gefertigten Lichtbilder in Augenschein nehmen könnte. Dies ist nach den bisherigen Feststellungen nicht der Fall. Eine Abbildung wird erst dann als Ganzes Bestandteil eines Urteils und damit auch dem Augenschein des Revisionsgerichts zugänglich, wenn eine den Anforderungen des § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO entsprechende Verweisung erfolgt (vgl. zu den Voraussetzungen KK-Engelhardt StPO, 6. Aufl., § 267 Fn. 6). Die bloße Mitteilung, die Lichtbilder seien in Augenschein genommen worden, reicht hierfür nicht aus, weil damit lediglich der Beweiserhebungsvorgang beschrieben wird (vgl. KG Berlin Beschluss vom 04.062007, 2 Ss 293/06 — juris).