Titel

VG Berlin, Beschluss vom 29.04.2020, Az. VG 1 L 147/20
Autokorso - Ausnahmegenehmigung (Versammlungsverbot - Coronavirus)

 


Zitiervorschlag: VG Berlin, Beschluss vom 29.04.2020, Az. VG 1 L 147/20, zitiert nach POR-RAV


Teaser

Ausnahmegenehmigung vom Versammlungsverbot nach SARS-CoV-2-EindmaßnV (Rechtsverordnung in Berlin) für nicht ortsfeste Versammlung

Leitsatz

Durch generellen Ausschluss nicht ortsfester Versammlungen hat das Land Berlin in der Rechtsverordnung - SARS-CoV-2-EindmaßnV - sein Verordnungsermessen überschritten.

Volltext

TENOR:

I. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin die beantragte Ausnahmegenehmigung nach § 4 Abs. 3 Satz 1 der SARS-CoV-2~Eindämmungsmaßnahmenverordnung zu erteilen.

II. Die Versammlungsteilnehmerinnen und -teilnehmer sind zur Vorkontrolle dem Antragsgegner mit vollständigen Namen und Anschrift sowie Fahrzeug bis zum 1. Mai 2020, 12:00 Uhr, bekanntzugeben.

III. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.

IV. Der Wert des Verfahrensgegenstands wird auf 5.000,- € festgesetzt.

GRÜNDE:

Der wörtliche Antrag,

den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der Antragstellerin für die Versammlung „Für mehr soziale Gerechtigkeit" am Frei­tag, dem 1. Mai 2020, eine Ausnahmegenehmigung nach § 4 Abs. 6 Berliner SARS~CoV-2-EindämmungsVO (4. Änderung) zu erteilen,

hilfsweise,

festzustellen, dass die Antragstellerin berechtigt ist, ihre Versammlung „Für mehr soziale Gerechtigkeit" am 1. Mai 2020 durchzuführen,

hat mit dem Hauptantrag Erfolg.

Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn die begehrte Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt der aus anderen Gründen nötig erscheint. Nach § 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO sind dabei die tat­sächlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs (Anordnungsanspruch) in gleicher Weise glaubhaft zu machen wie die Gründe, welche die Eilbedürf­tigkeit der gerichtlichen Entscheidung bedingen (Anordnungsgrund).

Dem Wesen und Zweck des Verfahrens nach§ 123 Abs. 1 VwGO entsprechend, kann das Gericht im Wege der einstweiligen Anordnung grundsätzlich nur vorläufige Regelungen treffen und dem jeweiligen Antragsteller nicht schon das gewähren, was Ziel eines entsprechenden Hauptsacheverfahrens wäre. Begehrt ein Antragsteller - wie hier - die Vorwegnahme der Hauptsache, kommt die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nur dann in Betracht, wenn ein Obsiegen im Hauptsacheverfahren mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist und dem Rechtsschutzsuchenden ande­renfalls schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträg!icher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 17. Oktober 2017 - 3 S 84.17/3 M 105.17, juris Rn. 2 und vom 28. April 2017 - 3 S 23.17 u.a. juris Rn. 1; ferner: Kopp/Schenke, VwGO, 25. Auflage 2019, § 123, Rn. 13ff. m.w.N.).

Auch unter Berücksichtigung dieses strengen Maßstabs hat die Antragstellerin so­wohl die tatsächlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Anordnungsan­spruchs (dazu unter 1.) als auch einen Anordnungsgrund (dazu unter 2.) glaubhaft gemacht.

1. Nach der im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung steht der Antragstellerin ein Anspruch auf die beantragte Ausnahmegenehmigung nach § 4 Abs. 3 Satz 1 der Verordnung über erforderliche Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS- CoV~2 in Berlin (SARS-CoV-2-Eindämmungsmaßnahmenverordnung - SARS-CoV-2-EindmaßnV), zuletzt geändert durch Art 1 der Fünften Verordnung zur Änderung der SARS~CoV-2-Eindämmungsrriaßnahmenverordnung, zu.

Nach § 4 Abs, 1 Satz 1 SARS-CoV-2-EindmaßnV dürfen u.a. öffentliche Versamm­lungen nicht stattfinden. Von diesem Verbot kann die Versammlungsbehörde für ortsfeste öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel von bis zu 20 Teilnehmenden bis zum Ablauf des 3. Mai 2020 auf Antrag Ausnahmen zulassen, sofern dies aus infektionsschutzrechtlicher Sicht vertretbar ist (§ 4 Abs. 3 Sat.1SARS-CoV-2-EindmaßnV). Diese Voraussetzungen liegen hier vor, so dass dahinstehen kann, ob das Infektionsschutzgesetz überhaupt eine hinreichende Ermächtigungsgrundlage für ein präventives Versammlungsverbot mit einem ins Ermessen der Verwaltung gestellten Zulassungsvorbehalt bietet (offen gelassen durch BVerfG, Beschluss vom 17. April 2020 - 1BvQ,37/20, juris Rn. 23).

a) Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 4 Abs. 3 .Satz 1 SARS-CoV-2-EindmaßnV liegen - abgesehen von dem Merkmal der Ortsfestigkeit - in Ansehung des von der Antragstellerin geplanten Autokorsos beginnend am XXXXX und XXXXX endend mit einer 20-minütigen Abschlusskundgebung am XXXXX vor. Hierüber besteht zwischen den Beteiligten kein Streit. Was die Tatbestandsvorausset­zungen der Ortsfestigkeit angeht, folgt die Kammer zwar im Ausgangspunkt der An­sicht des Antragsgegners,dass bei einem Autokorso hiervon nicht die Rede sein kann, auch wenn die Versammlungsteilnehmer selbst die Fahrzeuge nicht verlassen.

Indes kann die Tatbestandsvoraussetzung der Ortsfestigkeit für die von der Antrag­stellerin geplante Versammlung keine Anwendung finden. Denn durch den generel­len Ausschluss nichtortsfester Versammlungen von der Möglichkeit, eine Ausnahmegenehmigung zu erhalten, in §.4 Abs. 3 Satz 1 SARS-CoV-2-EindmaßnV hat der Anfragsgegner das ihm zustehende Verordnungsermessen überschritten. Ein solch genereller Ausschluss ist nicht erforderlich, um den mit der Regelung bezweckten Infektionsschutz umzusetzen (vgl. in Bezug auf die 800-Quadratmeter-Regel für La­denschließungen VG Hamburg, Beschluss vom 21. April 2020 - 3 E 1675/20, S. 5 f. BA). Der Antragsgegner weist zwar im Ausgangspunkt richtig darauf hin, dass die Einhaltung der infektionsschutzrechtlichen Anforderungen bei einem Aufzug ungleich schwerer zu gewährleisten sein dürfte als bei einer Versammlung mit einem festen Standort. Dabei handelt es sich jedoch um einen Gesichtspunkt, der letztlich auf jede nicht ortsfeste Versammlung zuträfe. Diese pauschale Einschätzung wird dem Grundrecht aus Art. 8 GG nicht gerecht. Maßgeblich sind immer dle Umstände des Einzelfalls (BVerfG, a.a.O., Rn. 23). Dass hiernach auch Aufzügen eine Ausnahme­genehmigung erteilt werden kann, wenn diese im Einzelfall dem lnfektionsschutz Rechnung tragen, zeigt die von der Antragstellerin geplante Versammlung deutlich. Denn an dieser sollen maximal 20 Personen in einem Autokorso teilnehmen. Der Autokorso soll sich um XXXX am XXXX sammeln und um XXXX Uhr in Bewegung setzen. Nach den Angaben der Antragstellerin befänden sich je zwei oder drei Personen in insgesamt acht Autos;. dabei seien - was nach §1 Satz 3 SARS­ CoV-2-EindmaßnV zulässig ist - nur solche Personen in einem Auto, die zum gleichen Hausstand gehörten bzw. Lebenspartner seien. Die Versammlungsteilnehmer seien ihr namentlich bekannt. Zudem solle ein Pritschenwagen mit iner Muslkanlage mitgeführt werden. Dies diene dem Abspielen vorbereiteter oder gestreamter Re­de- oder Musikbeiträge während der Fahrt. Nachvollziehbar führt die Antragstellerin aus, dass ein Zustrom von Personen am Ausgangspunkt des Autokorsos dadurch verhindert werden soll, indem dieser nicht öffentlich bekannt gemacht werde. Auch auf elne Auftaktkundgebung werde aus diesem Grund verzichtet. Dass sich dem Autokorso während der Fahrt weitere Personen anschließen würden, erachtet dle Kammer als fernliegend, zumal keine wie auch immer gearteten Zwischenhalte vorgesehen sind. Bei der Abschlusskundgebung am XXXX ist vorgesehen, dass eine Person eine Rede halten wird, während die anderen Versammlungsteilnehmer in ihren Autos bleiben oder diese - unter Einhaltung des Mindestabstandes nach§ 1 Satz 2 SARS-CoV~2-EindmaßnV verlassen, soweit nicht ohnehin § 1 Satz 3 eingreift. Soweit der Antragsgegner der Antragstellerin insoweit vorhält, sie könne nicht sicherstellen, dass die Versammlungsteilnehmer den Mindestabstand wahren würden, ist dies für die Kammer schon aus tatsächlichen Gründen nicht überzeugend. Die Konzeption der Versammlung erscheint der Kammer als durchdacht und die infektionsschutzrechtlichen Vorgaben ernst·nehmend. Dass es hinsichtlich der Mindestabstände zu Verstößen kommt, ist ausgehend hiervon eher fernliegend, zumal es dem Versammlungsleiter in diesem Fall obliegt, in geeigneter Weise auf die Ver­sammlungsteilnehmer einzuwirken, was angesichts der überschaubaren Teilnehmer­zahl und des Umstands, dass die Versammlungsteilnehmer alle namentlich - auch dem Antragsgegner - bekannt sind, unschwer durchsetzbar sein dürfte. Im Übrigen ist der Hinweis des Antragsgegners auf mögliche Verstöße gegen die infektions­schutzrechtlichen Vorgaben zu pauschal. In dieser Pauschalität gilt er letztlich für öffentliche Versammlungen und wird im konkreten Einzelfall dem Gewicht und der Bedeutung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit nicht gerecht (vgl. BVerfG, a.a.O., Rn. 23). Zwar ist dem Antragsgegner darin zu folgen, dass es nicht von vorn­herein als vollkommen ausgeschlossen erscheint, dass sich bei der Abschlusskund­gebung weitere Personen der Versammlung anschließen. Einzelfallbezogene Ge­sichtspunkte, die hierfür sprechen, die also über den pauschalen Hinweis auf diese stets bestehende Möglichkeit hinausgehen, trägt der Antragsgegner insoweit aber nicht vor. Dies genügt nicht, um dfe Versagung der Ausnahmegenehmigung zu tragen, da diese Bedenken letztlich jeder Versammlung entgegengehalten werden müssten (vgl. BVerfG, a.a.O., Rn. 23). Schließlich ist die Genehmigung nicht mehr nur „in besonders gelagerten Einzelfällen" zu erteilen, wie noch in § 1 Abs. 7 SARS·CoV-2- Eindmaßn V a.F. vorgesehen (vgl. Beschluss der Kammer vom 9. April 2020 - VG 1 L 124/20).

b) Die Antragstellerin hat.gemäß Art..8 Abs. 1 GG einen Anspruch auf Erteilung der begehrten Ausnahmege­nehmigung. Das dem Antragsgegner eingeräumte Ermessen ist auf Null reduziert. Die Möglichkeit der Ausnahmegenehmigung ist in § 4 Abs. 3 Satz 1 SARS-CoV-2-EindmaßnV unter der Voraussetzung vorgesehen, dass dies aus infektionsschutz­rechtlicher Sicht vertretbar ist. Bei Einhaltung der von der Antragstellerin selbst vor­gesehenen Vorgaben sind keine weiteren infektionsschutzrechtlichen Bedenken er­sichtlich, welche eine Ablehnung der Ausnahmegenehmigung und mithin einen Ein­griff in die grundrechtlich geschützte Versammlungsfreiheit rechtfertigen könnten (vgl. VG Münster, Beschluss vom 25. April 2020 - 5 L 361/20, juris Rn. 26).

2. Das Vorliegen eines Anordnungsgrundes folgt aus dem unmittelbar bevorstehen­ den Termin am 1. Mai 2020. Die von der Antragstellerin geplante Versammlung weist thematisch einen spezifischen Bezug zum 1. Mai 2020 auf, so dass der Antragstelle­rin Nachteile drohen, die das Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache unzumutbar machen. Würde die einstweilige Anordnung nicht ergehen, würde ihr An­spruch endgültig vereitelt werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus§ 154 Abs. 1 VwGO und die Festsetzung des Werts des Verfahrensgegenstands aus § 52 Abs. 2 GKG.

Kommentar

Entscheidung wird bestätigt und erweitert durch OVG 11 S 36/20