Titel

VG Hamburg, Urteil vom 07.05.2007, Az. 19 K 4242/06
Rechtswidrigkeit der Ingewahrsamnahme bei nichterfolgter vorheriger Versammlungsauflösung

 


Zitiervorschlag: VG Hamburg, Urteil vom 07.05.2007, Az. 19 K 4242/06, zitiert nach POR-RAV


Teaser

Versammlungsrechtlicher Schutz einer "reclaim the streets"-Aktion

Leitsatz

1. Ein Rehabilitationsinteresse liegt regelmäßig vor, wenn eine Person aus Gründen des Sicherheit und Ordnung gegen seinen Willen in Gewahrsam genommen wird. 2. Zur Qualifizierung einer "reclaim the streets" -Aktion als Versammlung. 3. Bis zur Auflösung einer Versammlung sind polizeirechtliche Maßnahmen gegen Versammlungsteilnehmer unzulässig. 4. Der Schutz des Versammlungsgesetzes bleibt auch dann bestehen, wenn Teilnehmer dem Zugriff der Ordnungskräfte ausweichen, unabhängig davon, ob der Zugriff berechtigt wäre oder nicht. 5. Die Sperrwirkung des Versammlungsrechts gilt auch für unfriedliche Versammlungen. 6. Eine Einschließung der Versammlungsteilnehmer stellt keine konkludente Auflösung dar.

Volltext

TENOR

Es wird festgestellt, dass die Ingewahrsamnahme des Klägers am 14. Juli 2006 rechtswidrig war. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festzusetzenden Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrages leistet.

GRÜNDE

Tatbestand:

Der Kläger wurde bei einem Polizeieinsatz am Abend 14.7.2006 in Gewahrsam genommen und gegen Mitternacht desselben Tages entlassen. Die Beteiligten streiten darüber, ob die Ingewahrsamnahme rechtswidrig war.

Im Zusammenhang mit den Protesten gegen den G8-Gipfel in St. Petersburg im Juli 2006 wurde auf diversen Internetseiten unter dem Motto "Reclaim The Streets" zu einem "Global Action Day" am 14.07.2006 in Hamburg aufgerufen. Auf den recht unterschiedlich gestalteten Seiten wurde die Politik der Teilnehmerstaaten des Gipfels kritisiert und mit vielfältigen Slogans zum Protest aufgerufen. Aufrufe zum "Global Action Day" waren teilweise so gestaltet, dass Ausdrucke als Handzettel oder Plakate Verwendung finden konnten. So hieß es auf unter www.electronic-beatz.net unter der Überschrift: "ReclaimTheStreets! - party: " 14.7. Hamburg GLOBAL ACTION DAY gegen die G8 Tagung in St. Petersburg FÜR EIN SCHÖNERES LEBEN GEGEN den globalen KAPITALISMUS UND die HERRSCHAFT einiger weniger ORGANISIERT EUCH denkt euch AKTIONEN aus STÖRT das vermeintliche SELBSTverständnis achtet auf Ankündigungen: www.reclaimshestreets-hh.tk" Auf der Internet-Seite www.gipfelsoli.org konnte man lesen: "Lasst uns am 14. Juli in Hamburgs Straßen durch unseren bunten Protest unserer Vorstellung vom schönen Leben Ausdruck verleihen. Durch eine Reclaim the Streets Party durchbrechen wir die Normalität des öffentlichen Raumes. (...) Inhaltlich befasste sich der Aufruf weiter mit den Themen des G8-Gipfels (Energie, Bildung und Infektionskrankheiten) und forderte die sofortige Stilllegung der Atomanlagen, sowie Bildung und Gesundheitsversorgung für alle. Als Treffpunkt am 14.07.2006 um 17 Uhr wurde die Grünanlage zwischen Thadenstraße/Scheplerstraße und Gählerstraße benannt. Teilnehmer erhielten außerdem den Hinweis: "... und denkt daran wenn ihr anfangs wenig Leute seht: es werden überall in dieser Umgebung Kleingruppen unterwegs sein. Haltet die Augen und Ohren offen, achtet auf andere Gruppen und bereitet euch vor."

Obwohl die geplante Veranstaltung nicht angemeldet war, hatte die Beklagte erhebliche Polizeikräfte zusammengezogen und in der Nähe, u. a. im Bereich Thadenstraßen, Holstenstraße, postiert. Am 14.07.2006 zwischen 17:00 Uhr und 17.30 Uhr versammelten sich ca. 150 Personen in der Grünanlage zwischen Thadenstraße, Scheplerstraße und Gählerstraße. Ein Teil der Personen führte eingerollte Fahnen, Einkaufswagen mit Lautsprechern sowie eine Schiffsattrappe mit Totenkopfflagge mit. Teilweise waren die Personen kostümiert und geschminkt. Auf einer aus Pappe hergestellten Weltkugel waren die Köpfe der Regierungschefs der G8-Staaten zu erkennen. An einem mitgeführten Drahtkäfig war ein Transparent mit der Aufschrift "No nation -no border -Stop deportation" an- gebracht. Die Mehrheit der Personen ließ sich auf dem Rasen nieder, es wurde laute Musik abgespielt. Zwischen 17:30 und 18.00 Uhr erhoben sich nach und nach einzelne Personengruppen und verließen die Grünanlage. Die Teilnehmer bewegten sich in kleineren Gruppierungen in unterschiedliche Richtungen, einige Richtung Holstenstraße/Max- Brauer-Allee, andere Richtung Schulterblatt/Neuer Pferdemarkt, wieder andere Richtung Stresemannstraße. Immer wieder betraten einzelne Personen, Fahrradfahrer oder Gruppierungen die Max-Brauer-Allee und blockierten den Fahrzeugverkehr. Wiederholt wurden Einzelpersonen, Radfahrer und Gruppen von den vor Ort befindlichen Einsatzkräften auf den Gehweg gedrängt. Vereinzelt wurden Personen in Gewahrsam genommen. Gegen 18: 15 Uhr betrat eine größere Personengruppe (ca. 150 Personen) die Straße Schulterblatt und blockierte den Fahrzeugverkehr. Eine weitere Gruppe betrat die Fahrbahn an der Einmündung Schulterblatt/Schanzenstraße. Im gesamten Schanzenviertel kam es zu erheblichen Behinderungen des Verkehrs durch Kleingruppen und Fahrradfahrer.

Etwa um 18:30 Uhr ordnete Polizeiführer Brand per Lautsprecherdurchsage die Ingewahrsamnahme der Personengruppen an. Viele entzogen sich durch die Flucht einer Festnahme. Ca. 250 Personen begaben sich über die Barteisstraße in Richtung Altonaer Straße. Dabei wurde die gesamte Fahrbahnbreite genutzt. Sie überquerten die Altonaer Straße in die Grünanlage zur Amandastraße. Einzelne Personen und Radfahrer blockier- ten wiederum den Straßenverkehr auf der Altonaer Straße. In Höhe Bellealliancestraße/Lindenstraße stoppte die Polizei die Gruppierung gegen 1 9 Uhr auf. Durch eine Kette von Polizei beamten wurde eine Gruppe von ca. 100 Personen am Verlassen des Straßenabschnitts Richtung Fruchtallee gehindert. Mit Hilfe eines Megaphons wurde die Ingewahrsamnahme dieser Personengruppe bekannt gegeben. Darunter befand sich auch der Kläger. Nachdem der Straßenabschnitt auch von Süden her durch Polizeikräfte blockiert worden und die Gruppe damit eingeschlossen worden war, wurden die eingeschlossenen Personen etwa ab 19.30 Uhr einzeln festgenommen und zu einer Sammel- stelle verbracht. Dieser Vorgang dauerte fast 3 Stunden. Um 22:25 Uhr waren die Maßnahmen vor Ort beendet. Kurze Zeit später wurde mit der Entlassung der in Gewahrsam genommenen Personen aus de Gefangenensammelstelle begonnen. Der Kläger kam gegen Mitternacht wieder frei.

Mit Schreiben vom 27.07.2006 beantragte der Kläger durch seine Prozessbevollmächtigte bei der Beklagten die Erteilung eines schriftlichen rechtsmittelfähigen Bescheides sowie Akteneinsicht. Der Beklagte reagierte mit Schreiben vom 19.09.2006, in dem sie das Geschehen am 14.07.2006 aus ihre Sicht schilderte und den Kläger auf sein Einsichtsrecht in die gefertigten Bildaufzeichnungen bei der Polizei hinwies. Dem Schreiben beigefügt war der Polizei bericht vom 14.0 .2006. Daraufhin beantragte der Kläger mit Schreiben vom 28.09.2006 weitergehende Akteneinsicht. Die Beklagte übersandte daraufhin die anlässlich des Einsatzes gefertigten Videoaufnahmen als Kopie. Der Kläger hat am 15.12.2006 Klage erhoben, mit der er die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Ingewahrsamnahme verlangt. Er habe an einer Demonstration gegen den G8- Gipfel teilgenommen, die von der Polizei nicht aufgelöst worden sei. Seine Festnahme sei deshalb rechtswidrig gewesen. Dadurch sei massiv in seine Grundrechte eingegriffen worden. Hieraus und aus der Gefahr einer Wiederholung derartigen Vorgehens folge ein Feststellungsinteresse.

Der Kläger beantragt, festzustellen dass seine Ingewahrsamnahme am 14.07.2006 rechtswidrig war.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

I Die Beklagte wendet ein, der Kläger könne sich auf den Schutz des Versammlungsrechts nicht berufen. Die Merkmale einer öffentlichen Versammlung in Form eines Aufzuges hätten zu keinem Zeitpunkt vorgelegen. Ziel der Veranstaltung sei lediglich die Störung des Verkehrs, nicht aber die gemeinsame Bekundung einer bestimmten politischen Haltung oder Aussage gewesen. So seien etwa weder Transparente gezeigt, noch Parolen skandiert worden, noch sei ein Verantwortlicher zu erkennen gewesen. Das Agieren der geschilderten Gruppierungen habe unkoordiniert und situativ gewirkt und sei darauf angelegt gewesen, Gefährdungen und Störungen zu verursachen. Würden Verkehrsbehinderungen von vornherein als erwünscht in Betracht gezogen, um etwa Aufsehen zu erregen, so könne der Schutz des Versammlungsrechts nicht in Anspruch genommen werden. Selbst wenn man die Störergruppen als Versammlung bewerten würde, hätte eine Auflösung den fliehenden Störern erst nach deren Festsetzung bekannt gemacht werden können. Zu der Ingewahrsamnahme habe es somit keine Alternative gegeben. Das Gericht hat Beweis erhoben über die äußere Form der Veranstaltung durch Inaugenscheinnahme der von der Beklagten gefertigten Bildaufzeichnungen vom 14.07.2006. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das Sitzungsprotokoll vom 07.05.2007 Bezug genommen. Die Sachakten haben dem Gericht vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig und begründet.

I. Die auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Ingewahrsamnahme gerichtete Klage ist zulässig. Insbesondere ist Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten nach § 40 Abs. 1 VwGO eröffnet. Eine anderweitige Zuweisung besteht nicht. Zwar sieht § 13a Abs. 2 S. 1 SOG für Entscheidungen über die Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheitsentziehung auf der Grundlage des § 13 SOG die Entscheidung des Amtsgerichts Hamburg vor. Für die nachträgliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Maßnahmen nach § 13 SOG bleiben aber, wie § 13 a Abs. 2 Satz 4 SOG klarstellt, die Verwaltungsgerichte zuständig. Die Klage ist als Fortsetzungsfeststellungsklage entsprechend § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO statthaft. Die Ingewahrsamnahme des Klägers ist als Verwaltungsakt zu qualifizieren, wo- bei unerheblich ist, ob dieser konkludent mit der Festnahme des Klägers oder bereits mit der Bekanntgabe über Megaphon erlassen wurde. Dieser Verwaltungsakt hat sich mit der Freilassung in der Nacht zum 15.7.2006 und damit vor Klagerhebung erledigt. Der Durchführung eines Vorverfahrens bedurfte es nach ständiger Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte nicht. Ob eine Klagefrist eingehalten werden muss oder nicht, wie das Bundesverwaltungsgericht (BVerwGE 109, 207) meint, bedarf hier keiner Entscheidung, weil die Klage jedenfalls binnen Jahresfrist erhoben wurde. Auch die übrigen Voraussetzungen der Fortsetzungsfeststellungsklage liegen vor. Der Kläger kann geltend machen, bis zum Eintritt der Erledigung durch die Ingewahrsamnahme in seinen Rechten verletzt worden zu sein. Sein Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Maßnahme ergibt sich aus dem Rehabilitationsinteresse. Ein solches Interesse ist anzunehmen, wenn der erledigte Verwaltungsakt wegen der Art des Eingriffs und der betroffenen Rechte die persönliche Integrität erheblich beeinträchtigt. Dies ist regelmäßig anzunehmen, wenn eine Person aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gegen seinen Willen unter Einschränkung seines Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG in Gewahrsam genommen und ihm damit seine persönlichen Freiheit - wenn auch nur vorübergehend -entzogen wird. Dies wird auch zu gelten haben, wenn sich die polizeiliche Maßnahme gegen eine Vielzahl von Personen richtet, obwohl in solchen Fällen der Aspekt der Diskriminierung nur eine untergeordnete Rolle spielt. Dabei ist nämlich zu berücksichtigen, dass eine Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit in vielen Fällen die einzige Möglichkeit für den betroffenen Bürger ist, eine gerichtliche Kontrolle der Rechtsbeeinträchtigung zu erreichen. Unter dem Aspekt einer Wiederholungsgefahr dürfte dem Kläger dagegen ein berechtigtes Interesse nicht zustehen. Obwohl die Beklagte ihr Vorgehen verteidigt, fehlt es an Anhaltspunkten, dass sich eine Situation wie die hier in Rede stehende mit denselben Gesamtumständen wiederholen und der Kläger dabei erneut in Gewahrsam genommen wird.

II. Die Klage ist begründet. Die Ingewahrsamnahme des Klägers am 14.07.2006 war rechtswidrig und verletzte den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 4 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 VwGO).

1. Die Ingewahrsamnahme des Klägers konnte nicht auf § 13 SOG, die einzige hier in Betracht kommende Rechtsgrundlage, gestützt werden. Es bedarf keiner abschließenden Entscheidung darüber, ob seinerzeit die Voraussetzungen des § 13 Abs. 1 Nr. 2 SOG vorgelegen haben, wonach eine Person in Gewahrsam genommen werden darf, wenn diese Maßnahme unerlässlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit zu verhindern. Diese Frage kann unentschieden bleiben, weil § 13 SOG im vorliegenden Fall nicht anwendbar war. Der Kläger war nämlich Teilnehmer einer Versammlung i.S. des Versammlungsgesetzes, als er in Gewahrsam genommen wurde (a). Er hätte nur in Gewahrsam genommen werden dürfen, wenn die Versammlung zuvor wirksam aufgelöst worden oder er als Person aus der Versammlung ausgeschlossen worden wäre (b). Die Beklagte hat aber weder die Versammlung aufgelöst, noch den Kläger von der Versammlung ausgeschlossen (c).

a) Als der Kläger am Abend des 14.7.2006 von Einsatzkräften der Beklagten in Gewahrsam genommen wurde, war er Teilnehmer einer Versammlung unter freiem Himmel i.S. der §§ 14 ff. VersG bzw. des Art. 8 Abs. 2 GG. Zu Unrecht meint die Beklagte, es habe sich bei den gemeinschaftlichen Aktionen der etwa 100 Personen im Zeitpunkt der Ingewahrsamnahme nicht um eine unter den Schutz des Versammlungsgesetzes fallende Versammlung gehandelt. Eine Versammlung ist eine "örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung". Diese vom Bundesverfassungsgericht (BVerfGE, Beschl. v. 24.10.2001 -BVerfGE 109, 92, 104; Kammerbeschluss v. 26.10.2004, NVwZ 2005, 80) geprägte engere Begriffsbestimmung wird von der Kammer auch dieser Entscheidung zugrunde gelegt. Art. 8 GG schützt die Teilhabe an einer öffentlichen Meinungsbildung, nicht dagegen die "zwangsweise oder selbsthilfeähnliche Durchsetzung eigener Forderungen" (BVerfG a.a.O.), auch nicht die bloße Absicht von Personen, durch Blockademaßnahmen oder Behinderungen gemeinsam Störungen der öffentlichen Sicherheit, ins- besondere des Straßenverkehrs, hervorzurufen. Nach diesem engen Versammlungsbegriff sind auch solche Veranstaltungen auszuschließen, deren Hauptzweck auf Spaß und Unterhaltung und anderen Zeitvertreib gerichtet ist, sei er störend oder nicht (BVerfG NJW 2001, 2460 -Love Parade). Maßgebend ist für die Abgrenzung das Gesamtgepräge der Veranstaltung (BVerwG, Urt. v. 16.5.2007 -6 C 23.06, zitiert nach juris). Selbst bei Zugrundelegung dieses engen Versammlungsbegriffs handelte es sich bei der Aktion am 14.7.2006 zum Zeitpunkt der Ingewahrsamnahme des Klägers um eine Versammlung i.S. des Art. 8 GG, die darauf gerichtet war, aus Anlass des G-8-Gipfels gemeinsam eine fundamentale Kritik am derzeitigen Lebensstil der Gesellschaften und an der Politik der westlichen Industrienationen zum Ausdruck zu bringen. Dies folgt nicht nur aus den diversen Aufrufen im Internet, sondern auch aus der Art und Weise der Durchführung der Aktionen, die ihr auch für Außenstehende das Gepräge einer Versammlung vermittelt haben.

aa) Als Anlass für die Aktionen lässt sich eindeutig der G-8-Gipfel in St. Petersburg identifizieren. Sämtliche aktenkundig gewordenen Aufrufe zur Teilnahme nehmen auf dieses Ereignis Bezug und enthalten eine mehr oder weniger allgemein und diffus formulierte Kritik an der globalen Politik der acht Teilnehmerstaaten. Auf den Internet-Seiten wird außerdem zu Aktionen aufgerufen, die schon durch die Art und Weise des Protestes eine Art Gegenentwurf zu den derzeit vorherrschenden Lebens- und Arbeitsverhältnissen zum Ausdruck bringen sollen. Ziel sollte danach nicht (nur) die Veranstaltung eines "Happenings" und die Störung des Straßenverkehrs sein, sondern auch die Manifestation einer anderen, alternativen Lebenshaltung bzw. Lebenseinstellung. Der öffentliche Raum, der vornehmlich zur Fortbewegung im Zuge irgendwelcher Arbeits- und Produktionsprozesse genutzt wird, sollte mit den Aktionen für andere Lebensäußerungen vereinnahmt werden.

bb) Auch die tatsächliche Durchführung der Aktionen entsprach diesem Bild, soweit sich das Geschehen anhand der Aufzeichnungen rekonstruieren lässt. Der Protest war nicht durch einen Aufzug herkömmlichen Zuschnitts mit Fahnen, Megaphonen und einem geordneten Aufmarsch gekennzeichnet, sondern geprägt durch eine Vielzahl dezentraler, spontaner Aktionen unter Mitführung von mehr oder weniger originellen Figuren und Darstellungen, die offensichtlich auch an Straßenkunst erinnern sollten. Dass sich der Protest gegen die Globalisierungspolitik der G-8-Staaaten richtet, blieb aber nach dem Eindruck, den das Gericht vom Ablauf gewonnen hat, bei allem Bemühen um Originalität jeweils erkennbar, wenn auch vielleicht nicht immer auf den ersten Blick wie etwa bei der Hydra mit den Köpfen der Staats- und Regierungschefs der G-8-Staaten.

cc) Zu Unrecht meint die Beklagte, bei den Aktionen habe die Absicht der Teilnehmer deutlich im Vordergrund gestanden, den Verkehr zu stören, die Ordnungskräfte herauszufordern und auf den Straßen eine Art Chaos anzurichten. Diese Ziele mögen ebenso eine Rolle gespielt haben wie die Absicht, den öffentlichen Raum für eine Art Happening in Anspruch zu nehmen. Sie haben aber nicht in einer Weise im Vordergrund gestanden, welche die Qualifikation der Veranstaltung als Versammlung i.S. des Art. 8 GG ausschließen würde. Vielmehr hat die Kammer - nicht zuletzt nach Kenntnisnahme der von einzelnen Phasen der Aktionen vorliegenden Video-Aufzeichnungen - die Überzeugung gewonnen, dass es den Teilnehmern in erster Linie um die gemeinsame Kundgabe einer kritischen Position gegenüber den diversen Phänomenen der Globalisierung aus Anlass des G-8-Gipfels ging. Die dabei unternommenen Störungen waren nicht Zweck der Veranstaltung, sondern Teil der Mittel, mit deren Hilfe die politische Position zum Ausdruck gebracht werden sollte.

dd) Auch wenn die im Bereich Lindenstraße/Bellealliancestraße eingeschlossenen Personen dorthin gezogen sein sollten, um sich, wie die Beklagte vorträgt, dem Zugriff der Ordnungskräfte im südlichen Teil des Viertels zu entziehen, hätte ihre Aktion den Charakter einer Versammlung i.S. des Art. 8 GG dadurch noch nicht verloren. Eine Auflösung der Versammlung war nämlich auch an anderer Stelle bis dahin nicht verfügt worden. Es nimmt einer Versammlung nicht den Schutz durch das Versammlungsgesetz, wenn die Teilnehmer dem Zugriff der Ordnungskräfte ausweichen, unabhängig davon, ob der Zugriff berechtigt wäre oder nicht. Vielmehr dauert der Schutz für die Teilnehmer solange an, wie die Versammlung nicht aufgelöst ist.

b) Da die Versammlung unter dem Schutz des Art. 8 Abs. 2 GG bzw. der §§ 14 ff. VersG stand, durfte die Beklagte den Kläger wie die übrigen Teilnehmer der Versammlung nicht ohne weiteres aus Gründen der Gefahrenabwehr einschließen und in Gewahrsam nehmen. Zur Abwehr einer versammlungsspezifischen Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder einer bereits eingetretenen Störung stehen vielmehr nur die Ermächtigungsgrundlagen des Versammlungsgesetzes zur Verfügung. Danach hätte die Beklagte entweder die Versammlung nach § 15 Abs. 2 VersG auflösen können, wenn dafür die Voraussetzungen vorgelegen haben sollten, oder einzelne Personen aus der Versammlung nach § 18 Abs. 3 VersG zuvor ausschließen können, wenn diese die Versammlung gröblich gestört hätten. Eine unmittelbare Anwendung der Ermächtigungsgrundlagen des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts zur Abwehr von versammlungsspezifischen Gefahren und Störungen ist dagegen nicht zulässig.

aa) Es entspricht allgemeiner Auffassung, dass die Vorschriften des Versammlungsgesetzes gegenüber versammlungsspezifischen Gefahren abschließenden Charakter haben und neben ihnen eine Anwendung der Bestimmungen des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts nicht zulässig ist (vgl. nur Dietel/Gintzel/Kniesel, Demonstrations- und Versammlungsfreiheit, 14. Aufl. 2005, § 1 Rn 192 ff.; § 15 Rn. 4 ff. m.w.N.). Das bedeutet insbesondere, dass Teilnehmer einer Versammlung nicht in Gewahrsam genommen wer- den dürfen, solange die Versammlung nicht insgesamt aufgelöst worden ist. Die Ingewahrsamnahme einzelner Teilnehmer setzt den vorherigen oder gleichzeitigen Ausschluss derselben von der Versammlung voraus. Der abschließende Charakter der Vorschriften des VersG schließt es zwar nicht aus, anstelle einer Auflösung der Versammlung nach § 15 Abs. 2 VersG weniger einschneidende Maßnahmen, sog. Minusmaßnahmen, auf die Ermächtigungsgrundlagen des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts zu stützen, wenn damit die Auflösung der Versammlung vermieden werden kann. Das gilt etwa für die Beschlagnahme von rechtswidrig mitgeführten Gegenständen oder Anordnungen hinsichtlich der Durchführung der Versammlung, ihren Weg usw. Das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht ermächtigt aber nicht dazu, die Versammlung ohne vorherige Auflösung durch die Ingewahrsamnahme aller Teilnehmer zu beenden. Nimmt die Versammlung einen störenden oder unfriedlichen Verlauf, dann muss zunächst die Versammlung aufgelöst werden, damit die Teilnehmer die Möglichkeit haben, sich zu entfernen. Erst wenn sie das trotz entsprechender Aufforderung nicht tun, kommt ihre Ingewahrsamnahme auf Grundlage des § 13 SOG in Betracht. Das gilt unabhängig davon, ob die Versammlung nach § 14 VersG ordnungsgemäß angemeldet worden war oder nicht.

bb) Hiergegen kann die Beklagte nicht erfolgreich einwenden, die Versammlung habe einen unfriedlichen Verlauf genommen, weshalb es zur Ingewahrsamnahme keine Alternative gegeben habe. Es bestehen nach den dem Gericht bekannten Umständen bereits Zweifel daran, dass die im Rahmen der Aktionen verursachten Störungen insbesondere des Verkehrs bereits die Schwelle zur Unfriedlichkeit überschritten haben. Das gilt insbesondere für den Zeitpunkt, zu dem die Teilnehmer der Versammlung eingekesselt und in Gewahrsam genommen wurden. Nicht jede Störung der öffentlichen Sicherheit führt nämlich bereits zum Verlust des Schutzes aus Art. 8 Abs. 2 GG. Vielmehr ist insoweit ein strenger Maßstab anzulegen, weil anderenfalls der Gesetzesvorbehalt funktionslos würde (BVerfG a.a.O., BVerfGE 104, 105 f.; Dietel/Gintzel/Kniesel, a.a.O. § 1 Rn. 138 ff.). Letztlich bedarf diese Frage hier aber keiner Entscheidung, weil die Sperrwirkung des Versammlungsgesetzes auch für Versammlungen gilt, die einen unfriedlichen Verlauf neh- men (OVG Bremen, Urt. v. 4.11.1986, NVwZ 1987, 236 für eine Sitzblockade; VG Hamburg, Urt. v. 30.10. 1986, NVwZ 1987, 829, 831 -Hamburger Kesse/; Dietel/Gintzel/Kniesel, a.a.O. § 1 Rn. 192 m.w.N.). Diese müssen dann nämlich nach § 15 Abs. 2 VersG aufgelöst werden, damit die Teilnehmer Gelegenheit haben, sich pflichtgemäß zu entfernen. Diese Möglichkeit wird ihnen im Falle der Einkesselung abgeschnitten.

c) Die Beklagte hat die Versammlung weder aufgelöst, noch den Kläger nach § 18 Abs. 2 VersG aus der Versammlung ausgeschlossen. Eine ausdrückliche Auflösungsentscheidung ist nicht getroffen worden. Auch die Beklagte selbst trägt nicht vor, dass die Versammlung nach § 15 Abs. 2 VersG formell aufgelöst worden wäre. Die Einschließung der Teilnehmer stellt auch keine konkludente Auflösung der Versammlung dar. Abgesehen davon, dass eine konkludente Auflösung von Versammlungen ohnehin nicht möglich ist, weil die Auflösung als Allgemeinverfügung schon aus rechtsstaatlichen Gründen klar und unmissverständlich sein muss, kann sie durch die Einkesselung der Teilnehmer und die Anordnung ihrer Ingewahrsamnahme deshalb nicht erfolgen, weil die Einkesselung den Teilnehmern die Möglichkeit, sich zu entfernen, gerade nicht eröffnet. Die Versammlung verliert deshalb durch Einkesselung und erst recht durch die Ingewahrsamnahme aller Teilnehmer ihren Charakter als Versammlung, nicht jedoch den verfassungsrechtlichen Schutz aus Art. 8 Abs. 2 GG bzw. aus § 15 Abs. 2 VersG. Denn der Schutz durch diese Vorschriften besteht gerade darin, dass den Beteiligten im Falle der förmlichen Auflösung der Versammlung die Möglichkeit gegeben wird, sich zu entfernen. Er darf nicht dadurch unterlaufen werden, dass die Versammlung durch Maßnahmen auf der Grundlage des allgemeinen Polizeirechts beendet bzw. unterbunden wird. Das gilt, wie dargelegt, selbst dann, wenn sonst alle Voraussetzungen für ein Vorgehen nach den Vorschriften des all- gemeinen Polizeirechts vorliegen sollten. Der Kläger ist auch nicht nach § 18 Abs. 3 VersG aus der Versammlung ausgeschlossen worden, weil er diese gröblich gestört hätte. In seiner "Herauslösung" aus dem Kreis der eingekesselten Teilnehmer und seiner individuellen Ingewahrsamnahme liegt kein konkludenter Ausschluss aus der Versammlung. Es mag offen bleiben, ob ein Ausschluss nach § 18 Abs. 3 VersG im Stadium der Einkesselung rechtlich noch möglich ist. Jedenfalls kann im Abführen des Klägers durch Polizeikräfte der Beklagten ein konkludenter Ausschluss nicht gesehen werden. Ziel war es nämlich nicht, die Versammlung vor einem Störer zu schützen, sondern sämtliche eingeschlossenen Teilnehmer der Versammlung nach und nach in Gewahrsam zu nehmen. Insofern hatte die Maßnahme ihren Grund gerade nicht in dem besonderen Verhalten gerade des Klägers. Außerdem ist nichts dafür ersichtlich, dass die Voraussetzungen des § 18 Abs. 3 VersG für einen solchen Ausschluss vorgelegen hätten.

2. Die Ingewahrsamnahme konnte ihre Rechtsgrundlage auch nicht im Versammlungsgesetz selbst finden. Als Minusmaßnahme zur Auflösung der Versammlung nach § 15 Abs. 3 VersG kann sie schon deshalb nicht gerechtfertigt werden, weil sie als unzulässiges Instrument zur Beendigung der nicht aufgelösten Versammlung eingesetzt wurde. Abgesehen davon hätte die Ingewahrsamnahme von Einzelpersonen deren vorherigen Ausschluss aus der Versammlung erfordert.

3. Die rechtswidrige Ingewahrsamnahme hat den Kläger in seinen Rechten aus § 15 Abs. 3 VersG und in seinen Grundrechten aus Art. 8 und Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.