Titel

VG Lüneburg, Beschluss vom 19.05.2005, Az. 3 A 133/05
Bezeichnung der Freiheitsentziehung nach außen als Ingewahrsamnahme begründet die Zuständigkeit des Amtsgericht bzgl. der rechtlichen Überprüfung

 


Zitiervorschlag: VG Lüneburg, Beschluss vom 19.05.2005, Az. 3 A 133/05, zitiert nach POR-RAV


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Teaser

Verkündet die Polizei vor Ort die "Ingewahrsamnahme", so ist für die Überprüfung dieser Freiheitsentziehung das Amtsgericht zuständig, auch wenn sich später herausstellt, dass der Grund für die Freiheitsentziehung keiner der in § 18 Abs.1 NGefAG genannten Gründe war. Als Annexkompetenz ist das Amtsgericht auch für die Frage der Art und Weise der Freiheitsentziehung zuständig.

Leitsatz

1. Zuständig für die Überprüfung von Freiheitsentziehungen, die von der Polizei vor Ort als Ingewahrsamnahmen bezeichnet wurden, ist gem. § 19 NGefAG das Amtsgericht.

2. Diese Zuständigkeit umfasst Rügen der Behandlung während des Gewahrsams.

Volltext

TENOR:

1. Der Rechtsstreit wird an das Amtsgericht Dannenberg verwiesen.

2. Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens bleibt dem Amtsgericht Dannenberg vorbehalten.

GRÜNDE

Die Klägerin begehrt die Feststellung, dass der Polizeikessel in Grippel am 12. November 2003 von 0:21 Uhr bis 5:05 Uhr von Anfang an dem Grunde nach, der Dauer und wegen der Behandlung währen der Maßnahme rechtswidrig war.

Für die Entscheidung über dieses Begehren ist das Verwaltungsgericht nicht zuständig.

Bei einer Ingewahrsamnahme wird eine bestimmte Person oder ein bestimmter Personenkreis in einem räumlich in der Regel eng umgrenzten Bereich und in der Regel zu den in den §§ 13 Abs. 2 Satz 2 (Identitätsfeststellung), 16 Abs. 3 (Durchsetzung einer Vorladung) oder 18 NGefAG (z.B. Verhinderung einer Straftat) festgelegten besonderen Zwecken „festgesetzt“ und diese Person oder dieser Personenkreis auf diese Weise gehindert, sich fortzubewegen. Dabei kann auch die Einschließung von Demonstranten in Form eines „Polizeikessels“ im Freien eine Ingewahrsamnahme sein (vgl. Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 3. Aufl. 2001, Abschnitt F Rn. 483, 484), Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass die Klägerin in einem räumlich eng begrenzten Bereich über einen Zeitraum von mehreren Stunden festgehalten wurde. Darauf, welche Ausdehnung der abgesperrte Bereich hatte, kommt es letztlich jedoch nicht an, denn unstreitig ist weiter, dass um 0:20 Uhr die Ingewahrsamnahme der eingeschlossenen Personen durch die Polizei förmlich bekannt gemacht wurde. Demzufolge ist davon auszugehen, dass seitens der Polizei hier eine Ingewahrsamnahme auf der Rechtsgrundlage nach § 18 NGefAG ausgesprochen worden ist, zu deren Prüfung nach 19 NGefAG das Amtsgericht zuständig ist.

Da die Ingewahrsamnahme auch gegenüber der Klägerin ausgesprochen wurde, ist unerheblich, ob diese als Nichtstörer in Anspruch genommen wurde, um gewaltbereite Demonstranten aus der Personenansammlung herauszusuchen. Dies ist eine Frage der materiellen Rechtmäßigkeit der Ingewahrsamnahme. Die Rechtswegzuweisung zu den Amtsgerichten ist auch unabhängig davon, ob gegenüber jeder Person, die in Gewahrsam genommen wurde, eine individuelle Gefahrenprognose erstellt worden ist oder ob mehrere Personen Adressaten des Ausspruchs der Ingewahrsamnahme sind. Ob letztere Fälle von § 18 NGefAG umfasst werden – wofür spricht, dass bei einheitlicher Gefahrenlage eine einheitliche Gefahrenprognose gegenüber mehreren Personen gleichermaßen gelten kann -, wird vom Amtsgericht zu überprüfen sein. Eine andere Rechtsgrundlage für eine Ingewahrsamnahme, zu deren Prüfung das Verwaltungsgericht zuständig wäre, ist nicht erkennbar und folgt insbesondere nicht daraus, dass zu berücksichtigen sein könnte, inwieweit das Versammlungsrecht bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit zu berücksichtigen ist. Denn diese Prüfung kann gleichermaßen vom Amtsgericht vorgenommen werden.

Dem Amtsgericht sind auch die von der Klägerin geltend gemachten Beeinträchtigungen in Bezug auf die Dauer und die Behandlung während der Ingewahrsamnahme nach Bekanntgabe der Ingewahrsamnahme zur Überprüfung zugewiesen (vgl. Beschluss der erkennenden Kammer vom 15-12-2004 – 3 B 60/04).

Das Verwaltungsgericht hat daher nach Anhörung der Beteiligten den Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten für unzulässig zu erklären und den Rechtsstreit an das sachlich zuständige Amtsgericht Lüneburg zu verweisen (§§ 83,173 VwGO i.V.m. § 17 a Abs. 2 Satz IGVG).

Die Entscheidung über die Kosten folgt aus §§ 83, 173 VwGO i.V.m. § 17 b Abs. 2 Satz 1 GVG.

Kommentar

Diese Entscheidung ist eine in der Reihe von Entscheidungen der niedersächsischen Gerichte, in denen regelmäßig zu Zuständigkeit der anderen Gerichtsbarkeit festgestellt wurde. Erstmalig wurde hier auch die Annexkompetenz für Rügen hinsichtlich der Art und Weise der Freiheitsentziehung festgestellt. Die ordentlichen Gerichte haben diese allerdings erst nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 13.12.2005 (Az.: 2 BvR 447/05) anerkannt (vgl. Beschluss des OLG Celle vom 23.06.2005, Az.: 22 W 32/05).